Kapitel 11

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Ich hatte mich ins Wohnzimmer auf die Couch gesetzt und schaute ein bisschen Fernsehen.
Andrew hatte gesagt, er würde uns im Restaurant etwas zum Essen holen.
Denn auf der gegenüberliegenden Straßenseite hatte er wohl einen kleinen Griechen gesehen.

Ich stand auf und ging zum Fenster unserer Suite.
Ich schaute hinaus.
Paris.
Nicht meine Heimat und doch meine Heimat.

Oh, mir fehlte ganz sicher etwas.

Ich ging zu der Kommode, nahm meine Handtasche und las den Brief.
Er war 29 Jahre alt.
Dann begann ich zu lesen und die Zeit blieb für mich stehen.

Erinnerungen kamen hoch. Ich saß im Zug und hatte ein ums andere Mal den Brief gelesen.
Ich vermisste sie.
Das wurde mir bewusst.
Sie waren nie da gewesen und doch...
Mir rollte eine Träne aus dem linken Auge und dann noch eine und noch eine.
Ich weinte, mein ganzer Körper zitterte.
Ich schrie nach ihnen. Oh hätte ich doch nicht den Brief gelesen.
Es war einfach zu hart. Immer alleine, immer einsam.

Plötzlich wurde ich hochgehoben. Sehr sanft.
Mein Körper zitterte immer noch so stark und aus meinen Augen rannen so viele Tränen, dass ich nichts sehen konnte.
"Schhhhhhh. Hey, ganz ruhig!"
Ich weinte nur noch lauter.
Waren das meine Eltern, die mich da trösteten? Ich fühlte mich so geborgen.
Ich drückte mich an das weiche etwas, das mich trug.

Dann wurde ich sanft auf ein Bett gelegt. Eine Decke über mir und dann setzte sich jemand neben mir aufs Bett.
Ich merkte das daran, dass es sich ein wenig einsenkte.
Mir wurden die Haare aus dem verheulten Gesicht gestrichen.
Ich drückte mich dieser Wärme, dieser Geborgenheit entgegen.
Ich wollte meine Eltern zurück! Ich vermisste sie so sehr!

Und alle Emotionen, die ich die letzten Jahre aufgestaut hatte, hinter verschiedenen Masken versteckt hatte, mich selbst vor ihnen versteckt hatte kamen aus mir heraus.
"Ganz ruhig.", sagte diese schöne Stimme.
Eine Hand legte sich auf meine Schulter.

Und da wusste ich, wem diese Stimme, diese Körperwärme gehörte.
Andrew.
Er streichelte mich und schaute mich aus diesen wunderschönen Augen an.
Ich konnte wieder klar sehen.
"Alles klar?", fragte er mich.
"N-Nein." Ich war zum ersten Mal ehrlich zu mir. Und auch zu Andrew.
"Komm, wir setzten uns mal an den Tisch und essen bisschen was. Es gibt griechisch."
"O-Okay."

Er schaute mich so sorgenvoll an. War das sein echtes Ich?
Ich rang mir ein Lächeln ab.

Wir setzten uns zusammen an den Tisch und er deckte ihn.
"Willst du... Willst du mir vielleicht sagen.... Na ja, was passiert ist?"
Ihm schienen die Worte zu fehlen.
"Ich-ich weiß nicht."
Das war die Wahrheit. Ich wusste nicht, ob ich ihm trauen konnte. Er wäre der erste Mensch, dem Ich Vertrauen schenkte.

Den Rest des Essens schwiegen wir.
Ich aß auf uns ging dann zur Spüle, um meinen Teller und mein Besteck abzuräumen.
Danach ging ich ins Bad.

Ich schaute mich im Spiegel an.
Oh Gott, wie ich nur aussah.
Ich blendete jegliche Gedanken an meine Eltern oder Vergangenheit aus.
Ich sah nur mich im Spiegel.
Nur mich.
Ich sah, wie es in mir aussah.
Ich war verletzt, traurig, unendlich einsam.
Und ich spürte, dass ich Andrew vertrauen wollte.
Ich spürte nicht nur die Anziehungskraft, die er ohnehin auf mich hatte. Denn wenn er nicht mein Boss gewesen wäre, hätte ich mich meinem Verlangen nach so langer Zeit wahrscheinlich schon hingegeben. Denn es war enorm.
Und was ich mir so langsam eingestehen musste, war, dass es nicht ganz normal war, was ich für ihm empfand.
Vielleicht so etwas wie Liebe.
Doch ich hatte Angst. Und zwar so viel Angst, dass ich beschloss, mich ihm nicht zu öffnen. Das Risiko wäre zu groß.
Was, wenn er mich damit bei meinen Kollegen lächerlich machte? Oder schlimmer...

Ich sah mich. Ich war nicht sonderlich schön. Schwarze Haare, graue Augen. Um nicht zu sagen hässlich.
Verheult wie ich war.
Ich wusch mein Gesicht. Dadurch wurde es auch nicht besser.

Andrew. Ein Mann, den ich gerne spüren würde. Küssen, Berühren.
Lieben.
Doch ich kannte ihn. Er war der kalte Boss.
Eine Maske, flüsterte mir die Stimme zu.

Es klopfte an der Badezimmertüre.
"Juliette?" Es klang leicht panisch.
"Du bist seit 30 Minuten im Bad! Alles okay?"
"Sicher."
"Aha."

Ich ordnete meine Haare und ging aus dem Bad.
Er starrte mich an.
Auf einmal drehte er sich weg und murmelte, "Ich bin in der Sauna."
Sauna also.

Ich ging in unser Schlafzimmer.
Alle Gedanken, die ich vorhin noch gehabt hatte sperrte ich in den hintersten Teil meines Bewusstseins. Auch meinen Hunger auf griechisches Essen.
So etwas emotionales durfte mir niemals wieder passieren.

Ich hörte die Tür der Sauna zuschlagen.

In meinem Koffer hatte ich ein schickes Kleid, das einigermaßen schön an mir aussah dabei.
Es war dunkelblau mit einem recht großen Ausschnitt.
Ich beschloss, mich schon umzuziehen, da es eh nur noch eine Stunde bis zur Schau war.

Ich schlüpfte in das Kleid, ließ den Reisverschluss hinten jedoch noch offen, denn ich wollte mich erst kurz vor knapp völlig in das Kleid zwängen.

Ich ging hinüber in das Bad.
Ich schminkte mich etwas mehr, als ich es für gewöhnlich tat.
Meine Haare ließ ich gelockt offen.
Ich betrachtete mich.
Zum ersten Mal fühlte ich mich nicht ganz so hässlich.
Dann drehte ich mich zu meinem Kulturbeutel, um mir noch eine Kette herauszunehmen.

Auf einmal spürte ich Hände an meiner Taille.
Große, warme, feste Hände.
Mir lief ein Schauer über den Rücken und eine leichte Gänsehaut überzog meine Arme.
Er fuhr mit seinem Finger einmal meinen nackten Rücken nach oben und dann wieder nach unten.
„Schließ bitte dein Kleid ganz, wenn du dich fertig machst. Oder du willst, dass ich dich sofort nehme." Seine Stimme klang lüstern.

Meine Reaktion auf seine Worte blieb nicht aus. Mir wurde warm, fast schon heiß und ich wusste genau, wo der Ursprung dieser Gefühle lag.
In meiner feuchten Mitte.

Dann zog er meinen Reisverschluss mit einer schnellen Bewegung zu und ging ohne ein weiteres Wort aus dem Bad.
Was war das denn gewesen?!
Ich spürte noch seine Berührung, seine Hände auf meiner Haut. Das ging so nicht! Er konnte mich doch nicht einfach so berühren! Das war ja fast schon Belästigung. Doch es hatte mir irgendwie auch gefallen...
Juliette, das war nicht mehr nur pure Anziehungskraft, denn seine Berührungen gingen mir tief unter die Haut.

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