Kapitel 37

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Nein! Nein! Nein!
Ich brüllte dieses eine Wort immer wieder. Natürlich leise in meinem Kopf.
Was machte Andrew hier?!
Er blickte immer noch in meine Augen und als ich nicht den Eindruck machte, bald wegzusehen, drehte er sich weg und meinte, ich solle reinkommen.
Von mir selbst überrascht, trat ich dann nach Andrew in Élos Wohnung ein.
Im Flur blickte ich mich um und konnte Élo nicht sehen.
Ich hängte meine Jacke an die Geraderobe und folgte Andrew weiter ins Esszimmer.
Dort saß sie am Tisch und hatte den Blick aus dem Fenster gerichtet. Draußen konnte man inzwischen den dezembergrauen Himmel sehen, der von winzigen weißen Wolken bedeckt war.
Ich wollte gerade ansetzen, mich zu entschuldigen, als Élo mir zuvorkam.
"Juliette! Sois calme! Mir ist es wirklich nicht so wichtig, ob du jetzt einen Termin, beziehungsweise ein Treffen mit mir vergessen hast oder keine Zeit hattest. Viel wichtiger ist mir, dass du dich jetzt mit Andrew zusammensetzt und euer Problem besprecht, das ihr ja anscheinend zu haben scheint.
Ich habe dir doch von mir erzählt und nichts ist schlimmer, als wieder bei Null anzufangen, wenn man den Menschen fürs Leben schon gefunden hat und aufgrund eines Fehlers oder was auch immer das bei euch war, nicht weiter macht und den Rest seines Lebens traurig ist. Denn es ist wirklich schwer, weitezumachen ohne sich ausgesprochen zu haben. Ich spreche aus Erfahrung. Wenn ihr also heute in euer Flugzeug steigt, dann habt ihr vielleicht noch keine Lösung gefunden, aber euch zumindest mal ausgesprochen. Und Juliette, wir bleiben in Kontakt, ich will meine Rede jetzt hier nicht mit mahnenden Worten beenden, weil ich ja doch sehr glücklich bin, dass wir uns getroffen haben und dir unbedingt für diesen einen Abend mit dir danken will. Wir müssen auf jeden Fall telefonieren.
Und jetzt fahrt ihr gemeinsam zum Flughafen, steigt in den Flug in die Schweiz und bitte versucht, zu reden. Ich wünsche dir eine ganz schöne Heimreise und viel Spaß bei deinen weiteren Abenteuern."
Das war ja mal eine kurze, aber doch überzeugende Rede gewesen.
Es sah aus, als wollte sie noch etwas hinzufügen, doch nach einem Blick in Andrews Richtung beließ sie es bei den eben gesagten Worten.
Andrew bemerkte den Blick natürlich und drehte sich zur Tür.
"Ich rufe dann schon mal ein Taxi und hole das Gepäck aus dem Hotel."

Ich schaute ihn nicht an und nickte nur.
Als dann die Tür ins Schloss fiel, bemerkte ich, dass Élo plötzlich neben mir stand.
Sie legte einen Arm um meine Schulter.
"Pschhhh. Ist schon gut."
Erst jetzt realisierte ich, dass ich weinte.
Ich schluchzte und Élo drückte mich noch ein bisschen fester.
"Magst du mir irgendetwas sagen? Mich anschreien? Irgendetwas tun?"
Ich hörte an ihrer Stimme, dass sie verzweifelt war. Ich saß einfach nur da und weinte, was sehr untypisch für mich war.
Doch was konnte ich nach diesem "Urlaub" in Paris überhaupt noch typisch und untypisch nennen? Ich war eine neue Juliette, die ich durch Andrew entdeckt hatte und gelernt hatte, sie zu mögen. Doch jetzt gerade fiel es mir sehr schwer, nicht in alte Muster zurück zu fallen und mich einfach in den Tiefen des Universums zu vergraben und nie mehr aufzustehen.

Auf einmal klingelte es. Ich mochte den Klingelton. Es war nicht so ein schöner klarer Ton, eher ein brummendes Quietschen, aber das verlieh der Klingel eine gewisse Menschlichkeit. Wie wenn sie empört darüber wäre, dass die Tür nicht geöffnet würde.
Élo stand auf und öffnete die Tür.
Wie nicht anders zu erwarten stand draußen Andrew, er blickte auf die Uhr und schaute etwas gehetzt.
"Das Taxi wartet unten. In einer Stunde geht unser Flug. Wir müssen und ziemlich beeilen."

Wieder nickte ich nur, wie ich genickt hatte, als er das Gepäck geholt hatte.

Ich drehte mich um und ich wusste nicht wie es zu Stande kam, doch ich lag in Élos Armen. Es fühlte sich gut an.
Sie duftete nach Holunderblüten und Büchern. Wahrscheinlich verbrechte sie viel Zeit in Buchläden oder Bibliotheken.
"Mach's gut."
"Du auch. Ich komme dich vielleicht im Sommer mal besuchen."
"Kann es gar nicht erwarten. Ich habe dir noch so viel zu erzählen."
"Ich dir doch auch."

Dann fiel die Tür hinter mir ins Schloss und die nackte Realität strömte auf mich ein.
Ich musste mich jetzt mit Andrew aussprechen. Dem Andrew, den ich für meinen Freund gehalten hatte. Dem ich vertraut hatte.
Und der schon vergeben war.

Ich stieg die drei Stufen zur Straße herab. Neben dem Trottoir stand ein Taxi.
Die Hintertür stand noch offen, also setzte ich mich hinten rein.
Andrew wollte sich ebenfalls hinten rein setzten und weil ich nicht wollte, dass der Taxifahrer alles mitbekam, rutschte ich ein Stück zur Seite.
"Danke."
Ich nickte nur.
Unser Fahrer betätigte das Gaspedal und wir rauschten los zum Flughafen.
Ausnahmsweise war ich einmal froh, dass er rechts überholte und der Kreisverkehr für ihn einfach ein Kreis am Boden war.
Andrew fühlte sich anscheinend nicht so wohl, denn sein Gesicht war mal wieder weiß geworden.
Trotzdem fing er an, zu reden.
"Willst du etwas sagen?"
Ich überlegte kurz, dann schüttelte ich den Kopf.
"Oder überhaupt sprechen."
"Natürlich kann ich noch sprechen. Ich habe es bis jetzt nur nicht für nötig gehalten. Ich möchte, dass du mir erklärst, was hier vorgeht, denn entweder ich habe etwas falsch verstanden oder ich verstehe nicht recht."
"Okay. Ich habe eine Freundin. Um genau zu sein eine Verlobte."
"Was?!"
Ich kam nicht mehr mit.
"Du musst mich ausreden lassen. Ich war noch nicht fertig mit meiner Erklärung. Ich bin bereits seit elf Jahren mit Clara verlobt. Aber bereits ein Jahr nachdem ich sie gefragt hatte, hat sie mich betrogen und seitdem habe ich sie nicht mehr wieder gesehen. Bis sie dann auf einmal bei unserem Zimmer aufgetaucht ist. Sie hat gemeint, sie würde alles bereuen und so, aber ich liebe sie nicht mehr. Weil...", er brach ab. "Bitte verzeih mir, dass ich es dir nicht erzählt habe. Du hast doch bestimmt auch Geheimnisse."
"Ja klar, ich bin eigentlich lesbisch und nutze dich nur aus. Nein, natürlich habe ich keine solchen Geheimnisse wie das, was du mir verschwiegen hast, denn so könnte ich keine Beziehung führen."
Mehr zu mir als zu Andrew murmelte ich dann: "Was habe ich nur für ein Problem? Da lasse ich mich dann auf einen Mann ein und dann ist er verlobt."
Natürlich hörte Andrew es.
"Ich habe doch schon gesagt, dass ich sie sehr lange nicht gesehen habe."
"Ja, zehn Jahre sind in der Tat viel. Und du bist nicht auf die Idee gekommen, die Verlobung zu lösen?"
"Wenn du willst, löse ich sie gleich, wenn wir in der Schweiz gelandet sind."
"Das ist jetzt nicht mehr der Punkt. Der Punkt ist, hättest du mir das dein ganzes Leben verschwiegen, wenn wir geheiratet hätten? Wenn wir zusammen alt geworden wären. Wenn sie sich nie mehr gemeldet hätte und du einfach die Verlobung gelassen hättest. Hättest du es mir gesagt?"
Er sah mich lange an und sagte "Ja".
Und in dem Moment wusste ich, dass er gelogen hatte.

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