Kapitel 23

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Als ich dann letztendlich aus dem Schlafzimmer heraustrat, saß Andrew auf der Couch und sah fern. Er konnte nur nicht sehr viel verstehen, weil es eine französische Doku war.
"Verstehst du da überhaupt etwas?", fragte ich ihn und er musste das grinsen schon in meiner Stimme gehört haben, denn er drehte sich zu mir um und sagte: "Hey! Das ist nicht lustig. Was kann ich denn dafür, dass ich dieses Französisch nicht kann?"
"Wenn du willst, kann ich es dir übersetzen."
"Echt? Das wäre super, denn das Thema interessiert mich wirklich."
War ja klar. Ich meine, es ging um Bücher.
"Ja. Dann mal los."
Ich setzte mich neben ihn auf die Couch und fing an, ihm alles möglichst schnell zu übersetzen. Zuerst hatte ich so meine Probleme, aber nach und nach klappte es immer besser und Andrew lehnte sich entspannt zurück.
Nach einer halben Stunde endete die Doku und Andrew ging ebenfalls duschen. Ich war froh, dass es heute kein Meeting mehr gab, denn ich spürte die Tage im Krankenhaus immer noch leicht. Morgen würde es mir bestimmt wieder normal gehen.
Seit dem Autounfall hatte sich etwas in mir geändert. Ich hatte über mein Leben nachgedacht und darüber, dass ich nicht so weiter leben wollte wie bisher. Es war traurig, dass mich mein prägendes Kindheitserlebnis so sehr zerstört hatte, dass ich die Leben anderer hatte zerstören wollen. Ich hatte Mitarbeiter einfach so gefeuert. Hatte mich nicht unter Kontrolle gehabt. Doch Andrew war mein Anker geworden und erst als dieser Anker fast nicht mehr da gewesen wäre, hatte ich realisiert, dass ich ihn so sehr liebte, dass ich mir ein Leben ohne ihn nicht vorstellen konnte.
Doch da waren meine Zweifel und diese dummen, dummen Zweifel wollten mich davon abhalten, ihm meine Liebe zu gestehen.
Freundin?
Bereit?
War ich überhaupt fähig, eine Beziehung zu haben?
Doch alle diese Grübeleien würden mir nicht helfen. Ich musste es ausprobieren. Ich würde es versuchen und wenn es nicht funktionierte, dann funktionierte es eben nicht. Dann hatte ich es versucht und feststellen müssen, dass er nicht der richtige war, obwohl er sich schon sehr nach dem richtigen anfühlte, und weiter meines Weges gehen.
Ich war zwar nervös, mein Herz pochte wie verrückt und ich tippte die ganze Zeit, die Andrew in der Dusche war, mit meinem Zeigefinger auf der Fernbedienung für den Fernseher herum, doch ich fühlte mich gut. Wie als hätte ich mich zum ersten Mal im Leben aufgrund meiner Gefühle, die nicht aus meiner Vergangenheit, sondern aus dem hier und jetzt stammten, leiten lassen. Als würde ich das richtige vorhaben.
Da ging die Tür vom Badezimmer auf und ich bekam einen leichten Panikanfall. Noch nie hatte ich mit irgendjemandem über meine Gefühle geredet.
Doch ich würde das jetzt schaffen!!
"Hey, Andrew! Heute stehen keine Termine mehr an, oder?" Was war denn das für ein Einstieg?! "Ne. Find ich auch gut so. Ich bin wirklich müde. Kurze Frage: Duschst du kalt?"
"Ähm... ja? Woher weißt du das?"
"Also im gesamten Bad war es sehr kalt, nachdem du drin warst und da habe ich mir gedacht, dass das nur davonkommen konnte, dass du kalt duschst."

Wie sollte ich jetzt nur auf meine Gefühle zu sprechen kommen. Mir fiel einfach kein passender Übergang ein.
"Also hey, ich weiß, dass ich nicht sehr viel über mich erzählt habe und dass ich generell sehr verschlossen bin, aber du hast mir neulich so viel über dich erzählt und wie du über mich denkst und ich dachte, dass das ja ein bisschen unfair wäre, wenn ich gar nichts über mich erzähle und deswegen werde ich dir jetzt ein bisschen was über mich erzählen."
"Okay, da bin ich mal gespannt. Aber nur zu deiner Info: Ich habe das nicht erzählt, weil ich mehr über dich erfahren wollte, sondern weil ich dir etwas über mich erzählen wollte."
"Ich tue das auch nicht deswegen, weil also ich habe irgendwie keine bessere Überleitung gefunden." Jetzt war meine Rede komplett im Eimer. Was hatte ich mir nur bei meinem letzten Satz gedacht. Och, ich war wirklich besonders schlau. Und wahrscheinlich würde ich jetzt die ganze Zeit rumstottern.
"Hahahaha, ja war mir irgendwie klar. Ist ja nicht so schlimm. Dann fang doch einfach mal an." "Okay:", ich holte tief Luft. "Also ich glaube, du weißt schon, dass ich aus Frankreich komme und nicht unbedingt die besten Erinnerungen an Paris habe. Das liegt daran, dass meine Eltern gestorben sind, als ich noch ganz klein war und wir keine Verwandten hatten, die mich aufnehmen konnten, und ich deshalb in ein Kinderheim kam. Und es war wirklich schwer für mich dort, weil ich keinen richtigen Ansprechpartner hatte. Keine Bezugsperson im Leben. Als ich sechzehn geworden bin, hat mir der Direktor des Heims einen Rucksack gegeben und da waren ein Brief und noch ein paar andere persönliche Sachen drin. Meine Eltern hatten ihn gepackt für den Fall, dass sie ihren Flug ins Weltall nicht überleben. Ich wurde dann auf ein Internat nach Deutschland geschickt. Und ich glaube, dass ich so geworden bin, wie ich jetzt bin, weil ich noch nie im Leben für jemanden Gefühle empfunden habe. Ich beneidete all die Menschen, die so glücklich in ihrem Leben waren und baute einen Hass auf, den ich nicht mehr loswurde. Aber als ich mit dir hier nach Paris gekommen bin, hast du mich nicht mit diesem Blick angesehen, mit dem ich immer angesehen werde und ich habe anfangs nicht verstanden, was das für Gefühle waren, die sich da in mir angestaut haben, doch jetzt weiß ich es. Es ist Liebe. Ich liebe dich! Und ich glaube, ich kann mit dir zusammen meine Vergangenheit hinter mir lassen. Erst seit dem Unfall ist mir bewusst, dass ich mir ein Leben ohne dich nicht vorstellen kann. Du verstehst mich, glaube ich zumindest, und ich möchte es mit dir versuchen."
Es fühlte sich an, als hätte ich nicht ein einziges Mal Luft geholt, während meiner Rede. Meine Kehle brannte und ich fühlte mich komplett ausgelaugt. Aber auch irgendwie frei. Als hätte ich eine schwere Last abgeworfen, die ich seit meiner Ankunft in Paris mit mir herumgetragen hatte.
Dann blickte ich Andrew an.
Er hatte die Augen geschlossen und atmete schwer. Als hätte er die Rede gehalten und nicht ich. Dann machte er die Augen auf und ich sah Unglaube. Freude. Zärtlichkeit. Verlangen. Und so viele weitere Emotionen, von denen ich nicht gedacht hatte, dass ich je der Auslöser für sie sein würde, und mit einer Stimme, die so glücklich klang, dass ich mich ihm sofort in die Arme werfen wollte, sagte er:
"Ich liebe dich auch, Juliette!"

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hier ist schon heute das neue Kapitel für euch!
♥️🙊

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