Kapitel 59

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Und schon war es so weit. Ich würde jetzt Andrews Eltern kennenlernen. 
Der Abend gestern hatte mich zuversichtlich gestimmt, dass wir Andrews Eltern überzeugen konnten, dass wir Zusammensein wollten. Dafür würden wir so tun, als ob wir schon zusammen wären. Wie sonst sollten wir uns verhalten?
Natürlich war ich deswegen aufgeregt.

Ich stieg mit Andrew zusammen aus dem Taxi aus, das wir uns genommen hatten.

"Na dann, Julie. Sind wir jetzt ein Paar."
"Ach Andrew! Hör doch auf. Das ist doch nur für heute Abend."
"Und wenn nicht?", er nahm meine Hand in seine und drehte mich zu ihm hin.
"Andrew, bitte lass das."
"Okay, aber denk mal über das nach, was ich gesagt habe."

Ich ließ das gesagte so stehen und widmete mich den Treppenstufen, die mit einem langen Kleid gar nicht so einfach zu bewältigen waren.
Fast wäre ich gestolpert, hätte mich Andrew nicht aufgefangen. Es war einer dieser typisch klischeehaften Momente, von denen es hieß, sie seien magisch.
Das war es tatsächlich gewesen. Nur für den Bruchteil einer Sekunde war ich in Andrews Armen gelegen und ich hatte mich wunderbar gefühlt.
Ein Kribbeln war durch meinen Bauch gefahren und meine Härchen an den Armen hatten sich aufgerichtet.

Ich war so in Gedanken versunken gewesen, dass ich überhaupt nicht bemerkt hatte, dass Andrew und ich bereits durch den roten, samtenen Vorhang in das Restaurant eingetreten waren. 
Ich nahm wahr, dass Andrew blitzschnell das gesamte Restaurant scannte, um seine Eltern zu entdecken und als sein Blick bei einem Ehepaar hängen blieb, wusste ich, dass das wohl seine Eltern waren. 

"Das sind sie.", flüsterte er mir zu.
"Okay, dann mal los.", antwortete ich ihm mit mehr Zuversichtlichkeit, als ich mir in dieser Situation zugetraut hätte.

"Guten Abend.", sprach ich das erste Wort aus, das zwischen Andres Eltern und mir gewechselt wurde. 
"Was macht unser Sohn hier?"
Ich hatte mich vorbereitet und würde das jetzt durchziehen.
"Ich fand es ihm unhöflich gegenüber, das erste Treffen zwischen seinen Eltern und seiner Freundin ohne ihn stattfinden zulassen."
"Kann mein Sohn denn nicht sprechen?", richtete sich sein Vater nun an Andrew. Ich hatte mit Andrew vereinbart, dass ich den Großteil des Gesprächs übernehmen sollte, da ich eingeladen worden war und es auch meine Möglichkeit war, mich zu beweisen. Das, hatte Andrew gesagt, war besonders wichtig: dass ich mich ihm seinen Eltern gegenüber als würdig erwies. Auch wenn ich das extrem albern und auch unhöflich fand, denn ich war nicht der Meinung, mich beweisen zu müssen.

"Sie haben nicht Andrew gefragt, sondern mich und da habe ich mich auch verpflichtet gefühlt, Ihnen zu antworten."
"Ach so ist das. Andrew. Sie sind per du mit Ihrem Chef."
"Es wäre ja auch sehr komisch, sich zu siezen, während man in einer Beziehung ist.", erklärte ich so überzeugend wie möglich. Auch wenn es mir sehr schwer fiel, dabei nicht mit der Wimper zu zucken.
"Sie haben ein Verhältnis mit meinen Sohn?", mischte sich nun auch seine Mutter ein. 
"Ja, wir sind zusammen." Während ich das gesagt hatte, setzte ich mich an den Tisch und versuchte, mich entspannt zurückzulehnen. Betonung auf versuchte.

Bis wir dann endlich bestellt hatten, ging diese Fragerei noch weiter bis Andrew das Wort ergriff.

"Findet Ihr nicht, dass ich euch extrem unhöflich verhaltet, abgesehen von eurem stalkerhaften Verhalten?"
"Was wirfst du uns denn jetzt schon wieder vor? Dass wir uns um dich kümmern? Das ist doch die Aufgabe der Eltern."
"Aber nicht so."
"Wie ist es denn bei Ihnen, Frau Foss? Wollen Sie auch nicht, dass Ihre Eltern sich um sie kümmern."
Natürlich hatte diese Frage kommen müssen. In mir brodelte es. Seine Eltern benahmen sich hier gerade wie die letzten Arschlöcher.

"Ach wissen Sie: manchmal schätze ich doch sehr, dass ich überhaupt keine Eltern mehr habe, dich sich so aufführen könnten wie Sie beide es tun." 
Dieser ganze Quatsch von wegen mich beweisen war mir jetzt nicht mehr wichtig. Jetzt wollte ich einfach nur noch diesen Abend hinter mich bringen und dann war's das. Egal, ob ich jetzt pampig, zickig oder gereizt rüberkam, meine Schlagfertigkeit würde mir niemand nehmen können.

Der ganze Abend verlief ziemlich schlecht. Ehrlich gesagt hatte ich auch nichts anderes erwartet, aber mich überraschten seine Eltern trotzdem mit ihren Äußerungen. Sie mussten recht viel Geld besitzen und zudem viele Kontakte haben. Das waren oft Kriterien, warum ich Menschen nicht mochte.

"Und ihr zwei seid euch sicher, dass ich euch liebt?"
"Aber ja.", erwiderte Andrew mit einer Selbstsicherheit in der Stimme, die mich überraschte. 
"Natürlich.", versuchte ich mich.

Als die Diskussion zwischen Andrew und seinen Eltern drohte, auszuarten, machte ich mich leise davon. Zu den Toiletten. 
Zehn Minuten waren vergangen und es war kein Ende des Streites in Sicht. Vielleicht war es das erste Mal, dass Andrew sich wirklich mit seinen Eltern aussprach. Vielleicht auch nicht. Jedenfalls war es mir unangenehm und ich hatte mich aus dem Staub gemacht.
Keiner hatte mich wahrgenommen und ich hoffte, dass sie noch diesen Abend fertig werden würden. 
Mir tat Andrew leid. Solche Eltern wünschte man sich nicht. Eltern waren doch etwas wichtiges. Sie gaben einem Geborgenheit und Liebe. Danach hatte ich mich immer gesehnt und wenn ich jetzt so Andrew sah wie er verzweifelt gestikulierte und bereits Tränen in den Augen hatte, da wurde meine Liebe noch stärker. 
Es war Andrew, den ich wollte. Er war es, mit dem ich mein Leben verbringen wollte, weil er mich verstehen würde, die ganze Zeit schon verstanden hatte wie es war ohne Eltern zu leben.

Ich würde mit ihm zusammen nach Norwegen fahren. Den Ort besuchen, von dem mir meine Eltern berichtet hatten. Vielleicht während unseren Flitterwochen, wenn es je so weit sein würde. 

Ich schreckte auf. Gedankenversunken hatte ich auf der Toilette die Zeit vergessen. Wie viele Minuten waren vergangen? Ich warf einen Blick auf die Uhr. Mist! Fast einen halbe Stunde.

Ich schlich zurück zu meinem Platz. Es war ruhig. Keiner sagte mehr ein Wort. Alle sahen mich fragend an.

Dann sagte ich: "Ich würde gerne nach Hause fahren."
"Wohnt ihr jetzt etwa schon zusammen?", keifte seine Mutter, die offensichtlich nur darauf gewartet hatte, dass ich zurück zum Tisch kam, doch ich hatte keine Kraft mehr. Die Erkenntnis, dass ich Andrew so sehr liebte wie ich es tat, war genug. 
"Nein, aber ich darf doch wohl noch meine eigene Wohnung als mein Zuhause bezeichnen."
"Dann macht doch weiter mit eurer Beziehung. Wir fliegen nach Sylt und verbringen dort einige Monate. Von dir, Andrew, haben wir erst einmal genug."
Mit diesen Worten stand Andrews Vater auf und verließ mit Andrews Mutter zusammen das Restaurant. Auf der Rechnung blieben wir sitzen.





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