Kapitel 44

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Obwohl ich ja wie gesagt kein sonderlicher Weihnachtsfan war, freute mich trotzdem ein wenig auf die kommenden freien Tage. Diese Auszeit war mir sehr willkommen.
Denn auch wenn ich keine körperlich anstrengende Arbeit verrichtete, hatten mich die letzten beiden Wochen vollkommen ausgelaugt.

Als ich aus meinem Auto ausstieg war es also der letzte Montag in diesem Jahr. Weihnachten war an einem Sonntag dieses Jahr. Mein Urlaub ging bis zum vierten Januar.
Ich lief die Treppe nach oben und ging durch in Eingangshalle zu den Aufzügen.

Nein! Warum musste ich auch immer so ein Pech haben?
Vor den zwei Aufzügen stand Andrew und wartete anscheinend ebenfalls auf den Aufzug.
Aber er hatte mich schon gesehen und ich konnte jetzt schlecht mitten in der Eingangshalle stehen bleiben. Das wäre dann doch zu auffällig gewesen.

Also ging ich festen Schrittes weiter und stellte mich neben ihn.
"Guten Morgen.", sagte ich zu ihm und ich war stolz, denn meine Stimme zitterte überhaupt nicht.
Er blickte jedoch nur ganz kurz zu mir, sodass ich es mir auch eingebildet haben konnte und sah dann stur die Aufzugstüren an.
Ich wollte noch etwas patziges erwidern wie etwa "Heute wohl mit dem linken Fuß aufgestanden oder was?", doch da kam dann schon der Aufzug, die Türen öffneten sich und wir stiegen ein.

Ich stellte mich auf die eine Seite und er auf die andere.
Als dann ungefähr in der Mitte zwischen dem Erdgeschoss und dem 16 Stockwerk der Aufzug stehen blieb und die Lichter ausgingen, fühlte ich mich filmreif.
Nicht nur dieser Augenblick, sondern mein ganzes Leben. Wahrscheinlich würden einige sogar die ein oder andere Träne vergießen, wenn sie mein Leben auf der Leinwand sehen würden.

Tatsächlich hatte ich gar nicht so viel Angst wie erwartet, denn ich war der festen Überzeugung, dass es gleich weiter gehen würde. Die wenigsten Leute starben in Aufzügen, doch Andrew schien es nicht so zu gehen.
Ich erinnerte mich, dass er mir auf dem Hinflug nach Paris erzählt hatte, er habe Platzangst.
Tja, das war in einer Situation wie dieser denkbar ungünstig.
Nicht, dass ich kein Mitleid gehabt hätte, doch irgendwie war ich ein wenig schadenfroh. Aber als sein Gesichtsausdruck ängstlich wurde, dachte ich zumindest, denn so viel konnte man in der Dunkelheit jetzt nicht erkennen, tat er mir leid und ich ohrfeigte mich in Gedanken, dass das Wort "Karma" auch nur in meinem Kopf aufgetaucht war.

Er presste sich an die Aufzugswand und hielt seine lederne Tasche eng an sich gedrückt.
"Du...", ich erinnerte mich noch knapp daran, dass ich ihn ja jetzt siezen sollte.
"Sie müssen keine Angst haben, es geht bestimmt gleich weiter."
Aghrr, klang das bescheuert. Ich würde das nächste Mal einfach "Du" sagen.

Ich machte einen Schritt auf ihn zu, um seinen Gesichtsausdruck besser sehen zu können und ihn besser einschätzen zu können, doch auf einmal keuchte er "Nicht näher, bitte."
Schnell trat ich wieder an "meine" Wand zurück.
Ich wollte ihn hier drinnen ja nicht verärgern.

"Gibt es hier so etwas wie ein Walkie Talkie zum Empfang? Dann können wir uns melden und sagen, dass wir feststecken.", sagte ich nachdem ich mit einem Blick auf mein Handy festgestellt hatte, dass es hier keinen Empfang gab. Da lebte man in einem High-Tech Gebäude und hatte in einem Aufzugsschacht keinen Empfang. Na super!

"Kann sein." Seine Stimme klang immer noch leicht gepresst.
Als ich meine Handytaschenlampe einschaltete, konnte ich ihn immerhin etwas besser sehen und er tat es mir gleich und schaltete ebenfalls seine Lampe an.

Ich suchte nach einem Knopf, der mich möglicherweise mit der Rezeption verbinden konnte.
Da gab es den Not-Aus-Knopf.
Die Tasten für die Stockwerke und eine goldene Glocke.
Ich ließ meinen Finder über der Glocke schweben und schaute Andrew fragend an.
Er nickte bloß.

Dann drückte ich, doch es passierte nichts.
Ich schaute Andrew entschuldigend an.
"Probieren Sie es nochmal!!"
"Ja okay, immer mit der Ruhe, anschreiben musst du mich auch nicht gleich."
"Und siezen Sie mich!!"
Er schrie, dass meine Ohren dröhnten, denn in dem Aufzug war es noch lauter zu hören.
"Bitte schrei nicht so.", versuchte ich ihn zu besänftigen.
Doch das du entflammte ihn nur noch mehr.
"Wieso machst du eigentlich nie das, was man dir sagt!!? Ich sage dir, du sollst mich siezen, tust du nicht. Ich bitte um eine zweite Chance, gibst du mir nicht."
"Das siezen war lächerlich."
"Ach ja? Jetzt behauptest du auch noch, dass das, was ich sage lächerlich ist?"
"Nein, so meinte..."
Er fiel mir ins Wort.
"Schon gut, ich verstehe, dass du mich jetzt hasst."
"Ich..."
"Sag jetzt nichts weiter, ich muss mich konzentrieren."
"ICH HASSE DICH DOCH NICHT!"
Jetzt wurde auch ich langsam sauer. Was fiel ihm eigentlich ein, so mit mir zu sprechen und einfach irgendwelche Vermutungen anzustellen?

"Ach ja?"
"Nein, um dich zu hassen hätte ich im Moment überhaupt nicht die Kraft!"
"Aber um zu schreien schon?"
"Man du verhältst dich gerade wirklich wie ein richtiger Arsch!"
"Du bist schuld daran!"
"Jetzt sagst du, ich bin schuld daran, dass du ein Arsch bist? Der warst du doch schon vor mir. Wahrscheinlich seit deiner Geburt. Das ist bestimmt der Grund, warum deine Eltern dich nicht in die Welt hinausgelassen haben. Weil du ein Arsch bist."
"Und bei dir? Du bist doch nicht viel besser! Deine Tante wollte dich nicht und deine Eltern haben dich zurückgelassen!"
"Bei dem mit meiner Tante gibt es einen guten Grund!"
"Woher willst du das wissen? Du verstehst doch eh alle um dich herum falsch, bist immer nur mit dir selbst beschäftigt und feuerst die halbe Personalabteilung. Ich glaube, du bist nicht mehr ganz bei Sinnen."
"Was soll das denn jetzt wieder heißen?!"
"Das du krank bist!"
"Ich krank? Eher du, du bist richtig seltsam und hast offenbar große Probleme mit dir selbst!"
"Nein du hast sie, ich meine, wer ist hier die Chefin über die alle flüstern?"
"Und was ist mit dir? Bist du etwa best friend mit allen hier?"
Darauf fiel ihm keine Antwort ein und er hörte auf zu brüllen.
Ich war schon immer ganz gut in Schlagabtäuschen gewesen.

Obwohl sich das hier nicht wie ein Erfolg anfühlte.
Wir hatten ein ernstes Problem miteinander. Und ich wollte das lösen, denn nach diesem Streit machte sich ein unangenehmes Ziehen in meinem Bauch breit.
Ich wollte nicht mit Andrew streiten, zumindest nicht so.
Ich mochte es, angeregt zu diskutieren und auch mal unterschiedlicher Meinung zu sein, doch was hier gerade passiert war...
Ich war mir durchaus bewusst, dass ich Dinge gesagt hatte, die nicht in Ordnung waren, doch in diesem Moment brachte ich keine Entschuldigung über meine Lippen.

Ich ließ mich auf den Boden sinken. Wie lange waren wir inzwischen hier drin? 15 Minuten? Oder schon länger?
Ich wusste es nicht, denn ich hatte nicht auf meine Uhr geschaut.
Andrew hatte sich ebenfalls hingesetzt und blickte an die Wand.

Immer wieder schaute ich zu ihm, in der Hoffnung ein versöhnliches Gesicht zu sehen, doch er starrte weiter grimmig an die Wand und es hatte nicht den Anschein, als wolle er so bald damit aufhören.
Ich hielt es nicht mehr aus.

"Es tut mir leid."
"Was?", schnauzte er mich an.
"Was ich gesagt habe, das war nicht okay. Und ich habe es nicht so gemeint."
"Natürlich hast du es so gemeint. Alles was du sagst meinst du so wie du es sagst."
"Nein, ganz bestimmt habe ich es nicht so gemeint."
"Okay, angenommen ich sollte dir Glauben schenken, was bringt mir diese Information jetzt?"
"Ich möchte keinen Streit."
"Gut, dann haben wir jetzt eben keinen Streit mehr."
"Mann, Andrew! Ich verstehe dich echt nicht. Warum bist du so?"
"Wie bin ich?"
"Genau jetzt schon wieder. Du tust so, als würdest du mich nicht verstehen, dabei weißt du ganz genau, was ich meine."
"Du bist doch diejenige, die hier alle missversteht."
Okay, jetzt war ich wieder sauer. Ich wollte mich entschuldigen und er machte einen auf dumm.
Dann eben nicht.

Ich schwieg und blickte in die andere Richtung.
"Bist du jetzt sauer?"
Ich antwortete nicht.
"Mann, jetzt verstehe ich dich nicht!"
"Ja, ich bin sauer.", fauchte ich zurück.
"Auf mich?"
"Natürlich, auf wen sonst. Schon wieder eine von diesen doof-dämlichen Fragen!"

Wir drehten uns beide in verschiedene Richtungen.
Irgendein berühmter Mann hatte mal gesagt:
"Ein Paar, das etwas zum Streiten hat, hat sich noch etwas zu sagen. Ein Paar, das aus Protest nicht mehr miteinander redet, hat sich noch etwas zu sagen. Ein Paar, dass miteinander redet, aber keine Themen findet, die sie beide interessieren, das hat sich nichts mehr zu sagen. Und natürlich gibt es auch noch das Standard Paar, das einfach normal miteinander diskutiert und lacht."
Konnte auch gut sein, dass es einfach aus einem Film kam.

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