Kapitel 35

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Wir hatten und eine Weile unterhalten und irgendwie war es passiert, dass ich ihm mein gesamtes Leben erzählte und er mir seines. 
Jetzt würden viele Leute vielleicht sagen, dass es leichtsinnig war, einem fremden Menschen sein Leben zu erzählen, doch ich kannte Julien. Ich war sechzehn Jahre neben ihm aufgewachsen.

So erfuhr ich auch, dass er einmal geheiratet hatte. Doch seine Frau war bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Oder auch, dass er gerne Trompete spielte. 
Ich lernte ihn noch einmal neu kennen.

Als ich nach zwei Stunden immer noch auf der Couch saß und ihm gerade von meinem Treffen mit Madame Rombouz berichtete, war ich auf einmal von mir selbst schockiert wie sehr ich mich in den letzten drei Wochen geändert hatte.
Überhaupt passierte es mir zurzeit überdurchschnittlich häufig, dass ich mich Menschen öffnete oder sogar eine emotionale Bindung einging. 
Was war der Auslöser gewesen?

"Wann fliegst du zurück in die Schweiz?"
"Übermorgen."
"Schon."
"Ich bin schon fast zwei Wochen hier."
"Dann gehst dieses Mal du und nicht ich."

Er sprach im letzten Moment, den wir wahrscheinlich noch miteinander hatten genau das Thema an, das wir die ganze Zeit über vermieden hatten. Unsere Vergangenheit.

"Ja, ich werde gehen."
"Okay."

Er blickte mich mit seinen grauen Augen an und ich spürte wie mir ein Schauer über den Körper jagte. Was waren das für Augen, die eine solche Intensität ausstrahlten?

"Dann mal eine gute Heimreise."
Es sah ihm nicht ähnlich, mir Glück zu wünschen.
"Okay. Und es war sehr freundlich von dir, mich hier aufzunehmen und zu pflegen."
"De rien."
Auf einmal wechselte er auf Französisch, was mich dermaßen verwirrte, dass ich nicht bemerkte, dass er einen Schritt nähergetreten war.
Doch dieser Nähe wurde ich mir dann umso schneller bewusst, als er seine Lippen auf meine senkte. 
Es war kein harter Kuss mehr. Es war ein Kuss, der Verlangen und aber auch gleichzeitig Verstehen ausdrückte. Man, jetzt wurde ich schon wieder poetisch, wie Élo das ausdrücken würde.
Aber ich erwiderte den Kuss. Ich küsste ihn zurück und er legte eine Hand in meinen Nacken.
Was tat ich hier?

Er drückte seinen Körper gegen meinen und ich spürte ein Bitzeln in meinem Bauch. Immer noch lagen seine Lippen auf meinen und es gefiel mir. Aber ich war doch in Andrew verliebt?! 

Jetzt verstand ich gar nichts mehr. Ich küsste einen Mann, den ich in meiner Kindheit nicht hatte ausstehen könne, war in einen anderen verliebt, was ich eigentlich immer noch nicht fassen konnte und der Kuss mit dem Mann, den ich nicht liebte, gefiel mir auch noch. 
Ich hatte mich nie für einen Menschen gehalten, der im Gefühlschaos versank, doch in diesem Moment wurde ich mir bewusst, dass ich keineswegs emotionslos war.
Und vielleicht lag es auch noch an Paris und nicht nur an zwei Männern.
Wie das klang: Zwei Männern. Ich wollte mir keine Gedanken wegen Männern machen. Ich war nicht eine von denen.

Und noch immer küsste Julien mich.
Seine Hand lag an meinem inzwischen nackten Rücken, weil er mein Oberteil ausgezogen hatte. 
"Oh, Juliette, ich will's tun.", raunte er.
Ich konnte nicht antworten, weil seine Berührungen mich zu sehr ablenkten.
"Ich...", ich musste stöhnen, weil er mich so erregte, "auch."
Er hielt kurz inne und sah mich an.
"Wirklich?"
"Ja." Ich sagte einfach "ja" und es war mir egal, was es für Auswirkungen haben würde. Es war Julien und ich war sauer wegen Andrew und auch enttäuscht, aber es war Julien und ich wollte es.

Seine Hände waren unaufhaltsam und schlängelten sich wie Schlangen an meiner Taille entlang. 

Ich biss ihm in die Lippe und er biss mich zurück. Zärtlich.
Irgendwie schafften wir es so in sein Schlafzimmer und als wir auf dem Bett lagen, waren wir auf einmal nackt. Wie es passiert war, war mir egal.
Ich war fokussiert auf den Sex, den ich jetzt gleich haben würde und blendete alles andere aus. Alles.

Nachdem er in mir war, konnte ich die Minuten nicht mehr von den Stunden unterscheiden. Die Zeit zog an mir vorüber und ich wusste nicht mehr, welcher Tag, welche Stunde und welches Jahr war.
Ich vergaß einfach alles. 

Es gab Höhepunkte, wie ich sie noch nie in meinem Leben gespürt hatte und ich konnte irgendwann nicht mehr vor Anstrengung. 
Wir legten uns nebeneinander hin, doch nach ein paar Sekunden oder waren es Stunden, drehte sich Julien wieder zu mir um, um mich kurz darauf wieder mit einer Leidenschaft zu küssen, die ich nie vergessen würde. 
Definitiv nicht.
Ich wusste nicht, wie lange ich noch in diesem Moment voller Leidenschaft verharren würde, weswegen ich meine Hände um seinen Hals legte und langsam seinen Hals bis zu seinem Bauch herab küsste. 
Julien liebkoste meinen Nacken mit seinen Händen und mir fuhren immer wieder Schauer über den Körper.
Es fühlte sich wie im Sex Paradies an. Und ich konnte das nach meinen Jahren im Sex Club wirklich gut beurteilen.
Nur ein klitzekleiner Teil von mir wunderte sich, dass ich obwohl ich bei Andrew so gezögerte hatte, intim zu werden, mich Julien einfach so hingab, Spaß hatte und mir nicht die Konsequenzen überlegte, die der Sex in jedem Fall haben würde.

Das Einzige, woran ich nebenbei denken konnte war, dass ich den Jungen, mit dem ich meinen ersten Kuss gehabt hatte, jetzt zwischen meinen Beinen spürte und ich mich vor Lust krümmte. 
Einen Mann, den ich nicht liebte.

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