Ich hastete die Straßen Paris' entlang. Menschen, die in dunklen Gassen auf wer weiß wen warteten rauschten an mir vorbei. Grellweiße und warme, gelbe Straßenlaternen beleuchteten meinen Weg.
Doch nichts davon nahm ich wirklich wahr.
Es war inzwischen schon mitten in der Nacht und keines der kleinen Cafés hatte noch geöffnet.
Als es zu schneien begann, zog ich meinen Mantel enger um mich, doch die Kälte drang trotzdem in meinen Körper ein und es setzten sich immer mehr Eiskristalle auf meinen Haaren und Wimpern ab.Immer noch hastete ich durch die Straßen. Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren.
War es schon nach Mitternacht?
Ich schätzte schon, denn ich fühlte wie ich immer müder wurde.Wie lange konnte man mit einem dünnen Mantel bei Schneefall in Paris überleben?
Ich konnte nicht mehr und schaffte es gerade noch in einen Hauseingang. Dann übermannte mich die Müdigkeit und ich fiel in einen unruhigen Schlaf.
"Hast du jemals darüber nachgedacht, abzuhauen?""Du nicht?"
"Nein."
"Sicher."Er verpasste mir einen leichten Schlag auf die Schulter, der aber trotzdem wehtat, denn ich hatte dort unzählige blaue Flecken von den vielen leichten Schlägen, die er mir schon verpasst hatte.
"Du bist dumm."
"Du doch auch."
"Nein."
"Sicher."
Er verpasste mir wieder einen leichten Schlag auf die Schulter, doch diesmal schlug ich zurück und zwar so hart, dass er an derselben Stelle wie ich auch einen blauen Fleck haben würde.
"Man, was hast du für ein Problem?"
"Gar keins."
"Und trotzdem schlägst du mich?"
"Du mich doch auch."
"Wieso haben wir hier eigentlich so eine tiefgründige Unterhaltung?"
"Keine Ahnung."
Dann küsste er mich. Es war ein harter Kuss. Und auch mein erster.
Damals kam es mir vor, als würde ich mit einem Schlag erwachsen werden. Ich hatte jemanden geküsst. Nein, er mich.
Ich erwiderte den Kuss.
"Juliette, du bist Scheiße."
"Du doch auch."
Und immer noch hatte er seine Lippen auf meinen.
Dann trat er einen Schritt von mir weg.
"Ich haue ab. Willst du mitkommen?"
"Wieso sollte ich. Du bist derjenige, der mich den ganzen Tag terrorisiert, der mich schlägt, der mir sagt wie dumm ich bin. Ich hasse dich."
"Ich bewundere dich. Wie du mit deinen Gefühlen umgehst."
"Und jetzt willst du mit mir abhauen?"
"Ich frage nur, ob du mitkommst. Ich haue ab. Irgendwo in den Norden, wo es ganz viel Schnee gibt. Weg aus Paris. Weg aus diesem Heim. Ich will nicht mehr."
"Du bist sechszehn."
"Du doch auch. Willst du jetzt die Vernünftige spielen?"
"Ich werde nicht mitkommen."
"Okay."
Er bewegte sich trotzdem nicht von der Stelle.
"Würdest du mich nochmal küssen?"
"Nein."
"Sicher?"
"Du mich?"
"Nein."
"Und wir lügen beide."
Er sah mich mit seinen grauen Augen an und tippte mit seinem Finger auf meine Lippen.
"Ich gehe jetzt."
Er drehte sich um und verschwand in seinem Zimmer, das er sich mit Nicolas und Pierre teilte.
Ich stand immer noch im Gang und als er dann mit einer Tasche wieder aus dem Zimmer trat wandte ich mich ab und ging selbst in mein Zimmer, wo mir dann ein wenig später eine Frau sagen würde, dass ich auf ein Internat gehen würde.
"Unsere Namen bleiben für immer verwandt. Julien und Juliette.", sagte er noch in die Dunkelheit des Ganges hinein.
"Ich weiß."Ich sah einen verschwommenen Schemen vor meinem Gesicht hin und her wabern.
Dann wurde ich hochgehoben.
Eine Tür wurde schnell aufgestoßen und ich wurde ruckartig auf eine Couch gelegt. Dann merkte ich wie viele Decken über mir ausgebreitet wurden und...
"Juliette!"
Nein, das konnte nicht. Nein, das war absolut unmöglich. Ich versuchte, meine Augen zu öffnen und schaffte es, mein linkes Auge einen Spalt breit zu öffnen.
"Julien?" Meine Stimme knarzte.
"Geht es dir gut?"
"Mir ist kalt."
"Okay, ich mache die eine heiße Zitrone."
Ich nickte aber wieder ein, bevor Julien mit seiner heißen Zitrone wieder da war. Der Schlaf übermannte mich und ich träumte wieder ein Erlebnis aus meiner Kindheit.
Es war mein Geburtstag. Die Erzieherin Léa hatte sogar einen Kuchen gebacken.
Es war ein schwarzer Klumpen, der stark nach Alkohol roch, weil sie in ihrem Zustand wahrscheinlich mal wieder ausversehen ihre Whiskyflasche über ihm ausgekippt hatte.
Sie stellte ihn auf den Tisch und murmelte irgendetwas mit "anniversaire". Man konnte sie nur schlecht verstehen, da sie praktisch immerzu lallte.
Ich wollte gerade ein Stück abschneiden, als mich eine Hand von hinten im Nacken packte und meinen Kopf nach vorne drückte.
Ich wehrte mich, doch ich war einfach nicht stark genug.
Mein Kopf wurde in den Kuchen gedrückt und beim Versuch, zu atmen, kamen Kuchenbrösel in meine Lunge. Ich hustete und versuchte vergeblich, Luft zu bekommen, doch der Junge hinter mir ließ nicht los.
Meine letzte Chance sah ich darin, ihm mein Messer, das ich immer in der Hosentasche hatte, ins Bein zu rammen.
Ich tat es und als er vor Schmerz aufjaulte, konnte ich endlich wieder atmen, da er meinen Hals losgelassen hatte.Ich drehte mich um mit einem Gesicht voller schwarzer Teigbrösel.
Direkt vor mir stand Julien und seine grauen Augen wurden fast schwarz.
"Herzlichen Glückwunsch zu deinem zwölften Geburtstag."
Als ein angenehmer Duft in meine Nase drang, schlug ich meine Augen auf.
Ich lag immer noch auf einem sehr harten Sofa und auf dem Sessel neben mir saß Julien mit einem Kaffee in der Hand und einer Zeitung auf seinem Schoß.
"Du bist wach."
"Ja."
"Ist dir noch kalt?"
"Es geht. Was ist passiert?"
"Das musst du mir sagen. Ich habe dich schließlich um halb drei in meinem Hauseingang gefunden,
und das auch nur, weil ich eine Runde joggen gehen wollte."
"Ich bin in deinem Haus?"
"Ja."
"Und du gehst nachts joggen?"
"Sag mir nicht, dass du es nicht auch tust."
"Nein."
"Schon klar."
"Du warst doch hier mit dem heißen Verleger. Wie heißt der doch gleich? Ach ja: Andrew Carter. Wieso bist du nicht bei dem im Bett. Ich dachte, ihr wärt zusammen."
"Was soll das, Julien?"
"Ich frag dich ja nur."
"Er hat eine Freundin."
"Was?"
"Er hat eine Freundin."
"Glaub ich dir nicht. Und woher wusstest du überhaupt, wo ich wohne?"
"Wusste ich nicht. Das war Zufall."
Es entstand eine Stille, in der wie einander beobachteten. Seine grauen Augen fixierten mich.
"Lange her." Sein Blick suchte meinen und fand ihn auch.
"Ja."
"Du wohnst nicht mehr hier in Paris, oder?"
"Nein."
"Habe ich mir schon gedacht, dass du es hier nicht mehr aushältst. Du hast ja auch noch die Geschichte mit deinen Eltern. Bei mir war es nur das Heim. Obwohl ich zwischenzeilich mal in Norwegen war."
"Ich wohne jetzt in der Schweiz."
"Kann ich mir denken. Immerhin ist da ja auch der Verlag."
"Stimmt."
"Und du hast mit deinem Boss geschlafen?"
"Ja."
"Und du bist mit ihm zusammen?"
"Keine Ahnung. Dachte ich, aber er hat anscheinend eine Freundin."
"Okay."
"Wie läufts bei dir so?"
"Ganz okay. Ich bin Autor, mein Buch wird gekauft und ich habe meine Vergangenheit hinter mir gelassen. Das ist doch gut oder?"
"Ja. Natürlich."
Er hatte mir Frühstück gemacht und jetzt aßen wir gemeinsam Baguette mit Butter und ich trank meine heiße Zitrone.
Es fühlte sich so unwirklich an. Da saß ich mit einem Mann, den ich in meine Kindheit und Jugend bis zum geht nicht mehr gehasst hatte und dann bei seinem Abschied geküsst hatte.
Außerdem hatte mein Freund eine Freundin.
Und jetzt fühlte ich mich schon wieder total komisch, weil ich ihn noch nie als meinen Freund bezeichnet hatte.
"Du kannst mit mir über alles reden, wenn du willst."
"Ja, klar. Mit dir."
"Ich meine es ernst."
"Sicher."
"Wieso sagts du so oft sicher?"
"Weil es passt?"
"Ah ja."Wir sahen uns an und irgendwann schob sich ein Lächeln in seine Mundwinkel. Und dadurch schob sich erstaunlicherweise auch ein Lächeln in meine Mundwinkel.
An einem Morgen in Paris um sieben Uhr, saßen zwei Jugendfeine lächeln nebeneinander und meinten, die Welt bliebe stehen.
Ich kam echt nicht mehr mit.
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Chefetage
RomanceJuliette ist die Chefin der Personalabteilung. Andrew ist der Big Boss der Verlagsfirma. Beide sind sehr verhasst bei den Kollegen. Herrisch, egozentrisch und feuern ihre Kollegen nur zu gerne wegen belanglosen Dingen. Sie kennen sich kaum, bis es e...