Kapitel 12

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Konrads Kopf lehnte an dem kleinen Fenster, durch das gerade genug Licht hereinkam, um den Roman von Oscar Wilde „Das Bildnis des Dorian Gray" zu lesen. Das hier war für ihn die schönste Zeit am schönsten Ort der Welt, wenn er sich auf diesen Stuhl auf dem Dachboden setzte, um alles Mögliche zu lesen, was ihm in die Hände fiel, und dazu die Aussicht auf die Gehsteige des Stadtteils Wanderlust, die immer von leuchtenden Flammenbäumen bewacht waren.

Als er an der letzten Seite angekommen war, schloss er sachte den Roman. Er stand auf und blickte auf die mit Büchern vollgestopften Wände, in der Hoffnung sich daran zu erinnern, wohin der gehörte, den er in seinen Händen hielt. Genau da, dachte er, als er die Abteilung mit der englischen Literatur sah, und stellte das Buch zwischen „Dracula" von Bram Stoker und „Sturmhöhe" von Emily Bronte.

Schon vor Jahren hatte er sich angewöhnt zu lesen, angetrieben von dem Bedürfnis, die fehlende menschliche Wärme erträglicher zu machen, die er in seinem Zuhause spürte.

Sein Magen knurrte und erinnerte ihn daran, dass er den ganzen Tag lang noch keinen Happen gegessen hatte und er verließ traurig den Dachboden. Das Haus der Brunners war in einer immerwährenden Ruhe versunken und die Ausgestaltung mit dunklem Holz und die rustikalen Dekore verstärkten das Gefühl der Einsamkeit. Er ging ins Wohnzimmer, wo sein Vater Zeitung lesend auf einem langen Sofa neben dem Kaminofen saß, in dem Feuer brannte.

„Hallo Papa!"

„Guten Morgen, Konrad", antwortete sein Vater, ohne den Blick von der Zeitung abzuwenden. „Deine Großmutter kam gestern vorbei und hat dir eine Maracujatorte gebracht. Sie steht im Kühlschrank."

„Okay, hat sie sonst noch etwas gesagt?"

„Sie konnte dich nicht im Krankenhaus besuchen, weil deine Mutter keine Zeit hatte, ihr zu erzählen, dass du dort warst."

Konrad öffnete den Kühlschrank und sah eine üppige gelbe Torte. Gierig nahm er sie heraus und schnitt sich ein großzügiges Stück ab. Er setzte sich an den runden Tisch in der Essecke neben dem Wohnzimmer und genoss sein Dessert. Oder wenigstens tat er das, bis er sich wieder an alle vorherigen Ereignisse erinnerte.


„Papa, kannst du mir bitte dein Handy zum Telefonieren leihen? Ich habe meins oben liegenlassen."

Salomon, Konrads Vater, nahm die Zeitung herunter und ließ sich zum ersten Mal an diesem Tag sehen. Er war ein ganz normaler Mann mit schwarzem Haar und buschigem Bart, mehr gab es nicht zu sagen.

„Hier", sagte Herr Brunner, holte sein Handy heraus und reichte es seinem Sohn.

„Dankeschön."

Konrad machte sich so schnell daran, die Nummern seiner Freunde zu wählen, dass ihm das Eintippen der Zahlen schwerfiel. Die Telefone von April und Veronica klingelten, aber niemand ging ran, und bei Sidney kam der Anruf nicht einmal an. Er versuchte jeden von ihnen noch weitere drei oder vier Mal anzurufen, doch mit demselben Ergebnis.

Jetzt gingen bei ihm erst recht die Alarmglocken an. Seine Freunde könnten in Schwierigkeiten stecken und seine Hilfe benötigen. Er ging hinauf in sein Zimmer und sprang dabei die Treppe hinauf wie eine Gazelle. Er duschte hastig und trocknete sich nur notdürftig ab. Dann zog er eine graue Jogginghose, Freizeitschuhe und ein schwarzes Kapuzenshirt an. Er putzte schnell noch die Zähne und eine Sekunde später hatte er bereits die Hand an der Klinke der Haustür.

„Wohin gehst du?", fragte Salomon, der sein Gesicht schon wieder hinter seiner Zeitung versteckt hatte.

„In die Schule, Papa."

„Bist du nicht krankgeschrieben?"

„Ja, mein Krankenschein war für einen Tag, also für vierundzwanzig Stunden, und wenn man die Stunden in der Nacht mitzählt, plus die von heute Vormittag, ergibt das genau vierundzwanzig Stunden."

Die Edelsteine von UspiamWo Geschichten leben. Entdecke jetzt