Kapitel 26

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Ich weiß nicht, wie lange ich einfach so da lag und mir wünschte, überall zu sein, Hauptsache nicht in diesem Zimmer, in dieser Wohnung, bei diesen Jungs. Irgendwann aber bewegten sich meine Finge von ganz alleine über die Matratze, bis sie die kühle Scheibe meines Displays erreichten und das Handy erneut über meiner Nase schwebte.
Ein Ziel hatte meine Aktion nicht gehabt. Lustlos scrollte ich über meinen Display, bis meine Finger schließlich an meiner Foto-App hängen blieben. Die neusten Bilder übersprang ich schnell. An meine letzte Erkundungstour mit Elji durch die verlassene Fabrik außerhalb der Stadt, erinnerte ich mich auch so noch gut genug. Meine Freunde hatte ich in den letzten Tagen auch viel zu oft vor meinem inneren Auge gesehen, als das ich sie durch unsere gemeinsamen Bilder noch mehr vermissen wollte.

Immer schneller wischte mein Zeigefinger über mein Handy, immer weiter kam ich in meiner Galerie zurück, bis ich auf einmal stoppte. Ich wusste nicht wieso. Ich wusste ja nicht einmal, wieso ich überhaupt angefangen hatte, mir meine Bilder anzuschauen. Vor allem die, von früher waren eigentlich welche, die ich gut und gerne in die hinterletzte Ecke meines Gedächtnisses verdrängte. Und spätestens, als mir Georgias Siegerbild ins Augen sprang, wusste ich auch genau, wieso.
Den Preis für „Frühe-Mathematik" hatte sie, genau wie ihre vielen anderen Auszeichnungen, immer noch in ihrem Zimmer stehen. Schon damals stand sie im Mittelpunkt jedes Geschehens. Egal, ob im Bild oder im wirklichen Leben.
Ihr Lächeln saß perfekt - wie immer. Ihre Haltung war schon mit ihren zwölf Jahren kerzengerade. Für die Umstehenden waren ihre jungen Jahre vermutlich das Interessanteste.
Ich hingegen war die einzige gewesen, die sich nicht für das Wunderkind interessiert hatte. Viel besser hatte ich die noch unbearbeiteten Aufgaben gefunden, die ich mir von überall her stibitzt hatte.

Noch weitere zwei Jahre hatte ich einfach mitgemacht, hatte in dem ganzen Konzept mitgespielt. Kurz nachdem ich dann allerdings die gleichen 12 Jahre, wie meine Stiefswester in der Momentaufnahme, erreicht hatte, hatte meine persönliche Sturheit angefangen sich deutlich nach außen zu zeigen.
Ich hatte keine Lust mehr gehabt, mich an einen Tisch mit Leuten zu setzten, von denen ich wusste, dass sie mich eigentlich nicht dabei haben wollte. Ich wollte nicht mehr den Blick meiner Mutter auf mir spüren, der nichts weiter sagte, als dass ich gefälligst in ihrem Bauch hätte sterben sollen. Ich wollte nicht mehr das unabknipsbare Anhängsel sein.

Es war ein Streit gewesen - so banal, dass ich mich heute schon nicht mehr an das Thema erinnern konnte - der veranlasst hatte, dass ich mich das erste Mal aus meinem Fenster herunter in den Garten befördert hatte. Mein einziges Ziel war gewesen, irgendwie raus zu kommen. Raus aus diesem Haus, aber vor allem weg von dieser sogenannten Familie.
Wie ich schlussendlich in den Gassen der Vorfeelds gelandet war, war mir bis heute ein Rätsel. Und ohne die Jungsgrruppe, die mich in meiner Ecke kauernd gefunden hatte, wäre ich vermutlich auch so schnell nicht wieder herausgekommen.

Viel wusste ich nicht mehr von dem Abend. Aber woran ich mich noch genau erinnern konnte war, wie ich zitternd, von der dunklen Stimme aufgefordert, meinen Kopf gehoben hatte und geradewegs in die grünen Augen sah, die noch heute eine unglaublich beruhigende Wirkung auf mich hatten.
Sean war damals nicht nur derjenige gewesen, welcher mich zurück nach Hause gebracht hatte, auch in den nächsten Wochen und Monaten, hatten er und seine Freunde mir gezeigt, wie ich mich in den Vorfeelds zu verhalten hatte und wo die Grenzen dieses Gebiets lagen.
Von Anfang an war der damals Sechzehnjährige zu mir anders gewesen, was vor allem an meinem jungen Alter gelegen haben müsste. Die meisten lernten ihn damals, wie heute als lässigen Draufgänger kennen. Einer, der gerne sagte, wo's langgehen sollte und alles tat, um diesen Status zu behalten.
Kaum waren wir jedoch alleine, zeigte Sean mir seine ruhige Seite. Er war mein Beschützer, mein Zufluchtsort, mein großer Bruder - und genau so verhielt er sich auch heute noch.

Ich konnte mich noch gut daran erinnern, wie er reagiert hatte, als einer seiner Clique, Elji, mich zum Freeclimbing hatte mitnehmen wollen. Und noch viel mehr erinnerte ich mich an den Moment, in dem er herausgefunden hatte, dass ich es trotz seines Verbotes doch getan hatte.
Beinahe das ganze halbe Jahr danach hatte ich mich tatsächlich von dem gefährlichen Sport ferngehalten, schlussendlich hatten mich Aylin, Zeph, Math, Ow und Elji dann aber doch zu sich zurückziehen können, wobei letzterer dafür sogar einen ordentlichen Streit mit seinem Freund in Kauf genommen hatte.

SWITCHED - Gefangen in einem fremden KörperWo Geschichten leben. Entdecke jetzt