Kapitel 43

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Ich bemerkte gar nicht, wo ich lang lief. So lange es ging, führte mich mein Weg gerade aus. Sobald ich eine Kurve nehmen musste, schlug ich die Richtung ein, die mir gerade mehr passte. Zum Stehen kam ich erst, als ich das tatsächliche Ende erreicht hatte. Ein großes, verschlossenes Tor hinderte mich an meiner weiteren Flucht. Vor den Jungs. Vor Namjoon. Vor mir selber.
Kurz überlegte ich, einfach aus diesem Gefängnis auszubrechen, über die weiße Wand hinüber zu klettern, um einfach weiter zu rennen, als mein Blick jedoch auf die zwei Überwachungskameras viel, verwarf ich den Gedanken. Der momentane Stress reichte mir mit zu genüge.

„Tay, warte!" Der Ruf meines Namens holte mich aus meinen Gedanken, schmiss mich mit voller Wucht zurück in die Realität und sorgte dafür, dass ich den Schlag der Panik wieder ungebremst spüren konnte.
Ich stand mit dem Rücken zu der Person und auch die Stimme hatte ich in meinem Zustand nicht wirklich zuordnen können. Ganz gleich, wer es war, ich war mir dennoch zum einen ziemlich sicher, dass ich kein Interesse daran hatte, diesem jemand auch nur in die Augen zu schauen und zum anderen, dass mein Verfolger noch weit entfernt war - weit genug, jedenfalls.

Hektisch zuckten meine Augen von rechts nach links; hin und zurück; immer wieder. Ich wollte niemanden sehen. Ich wollte auch mit niemandem sprechen. Und mit einem der Jungs erst recht nicht!
Ich fackelte nicht mehr lange, sonder rannte einfach los. Auf die Straße achtete ich nicht mehr - sie war ja zu Ende gewesen. Stattdessen flitzte ich nun so schnell, ich konnte über die grüne Wiese, hinter den Wohnblöcken vorbei, immer weiter weg. Alles, was ich noch hörte, war meine flache Atmung, die förmlich in meinem Gehörgang hin und her zu hallen schien. Und egal, wie nervtötend dieses Geräusch war, war es so viel besser, als meine eigenen Gedanken, die immer wieder versuchten, die Kontrolle der Aufmerksamkeit zu bekommen.

Als ich das nächste Mal stehen blieb, hatte ich keinen wirklichen Schimmer, wohin es mich da eigentlich getrieben hatte. Ich musste ziemlich am Rand des Geländes sein. Jedenfalls erstreckte sich erneut die hohe weiße Mauer neben mir empor.
Gute hundert Meter weiter lies ich mich schlussendlich im Schutz von vier Bäumen auf das Gras sinken. Das mir dabei noch immer vereinzelte Tränen übers Gesicht liefen, nahm ich zwar wahr, konnte allerdings nichts wirklich dagegen tun.
Ob ich es wollte oder nicht, immer wieder schob sich das Bild des DNA-Testes vor meine Augen. Immer wieder hallte der letzte Satz des Textes durch meine Ohren. Und das Gefühl, der unendlichen Leere und zugleich rasender Wut und Verzweiflung wollten einfach nicht aus mir verschwinden. Wie Dornenranken hatte es sich um mein Herz gewickelt, um dieses mit seiner Kraft zu erdrücken und seinen Nadeln zu erstechen.

Mein Vater, mein Halbbruder,...
Es war ein Thema gewesen, welches ich immer gut gewusst hatte, zu verstecken. Cady, Sean und Aylin hatte ich wahrheitsgetreu erzählt, dass ich meinen Vater nicht kannte, dass dieser noch einen Sohn gehabt hatte, hatte ich ihnen dennoch verschwiegen. Es war das Thema meiner Kindheit, welches ich nie vorgehabt hatte, anzugehen.
Meine Kindheit... da hatte er existiert, da hatte er existiert mein Vater. Ich konnte mich nicht daran erinnern, ihn je kennengelernt zu haben, doch meine Mutter hatte ihn oft genug erwähnt, als das er nicht stetig präsent seien konnte.
Wegen MIR hatte er sie verlassen. ICH war Schuld, dass meine Mutter nicht bei ihrer großen Liebe hatte blieben können, dass er sich von ihr abgewendet hatte, weil ihm sein Sohn wichtiger gewesen war.
Wäre ICH nicht geboren, wäre sie noch bei ihm. Und auch selbst jetzt, wo sie jemand neues gefunden hatte, an dessen Seite sie sich wohl zu fühlen schien, war ich nicht das, was sie gewollt hatte.
Früher war es ein Problem gewesen, dass ich von ihr stammte, jetzt war es ein Problem, dass ich von IHM stammte. ER war in mir. Und sie sah IHN in - sonst nichts.

Ich wollte nichts mit dieser Person zu tun haben, die noch mehr war wie er, wie mein Vater, wie das, was ich nicht seien sollte. Weder wollte ich einen Bruder und wenn er es noch so viel nur die Hälfte war, noch wollte ich seinen Vater, den ich nur mit Mühe und Not auch meinen eigenen nennen konnte, kennenlernen. Sie waren auch so schon zu lange zu präsent in meinem Leben gewesen, als das ich mich weiter mit ihnen befassen wollte. Weder heute, noch sonst wann.

SWITCHED - Gefangen in einem fremden KörperWo Geschichten leben. Entdecke jetzt