Kapitel 58

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Man selbst sein. Ich selbst sein.
Wer war ich denn? Wie war ich denn? Wie war ich wie ich selber? Und wie konnte ich nicht ich selber sein? Oder wie konnte ich nicht ich selber seien wollen?

So oft wurde uns in der Schule gepredigt, es wäre wichtig, sich selbst zu kennen, zu akzeptieren und zu lieben, wie man war. Damals hatte ich einfach immer genickt, hatte so getan, als ob mir das alles völlig klar war und ich nicht einfach nur keine Lust hatte, mir darüber Gedanken zu machen.
Auch Sean hatte mir, seitdem er mich praktisch als seine kleine Schwester angenommen hatte, immer wieder gesagt, ich solle ich selbst sein. Auch ihm hatte ich mit einem schlichten „Jaja", geantwortet. Wirklich darüber nachgedacht hatte ich aber auch da nie.
Wie könnte ich denn auch nicht ich selber seien können? Selbst, wenn ich versuchen würde, jemand anders zu sein, wäre ich ja trotzdem nicht zu 100 Prozent dieser jemand und somit ja doch wieder zumindest ein Stückchen ich selber.
Ich würde nicht behaupten, dass ich mich selbst je geliebt hatte. Ich hatte mich akzeptiert, wie ich war - daran ändern konnte ich ja sowieso nichts - aber ansonsten...
Die Zeiten, in denen ich mir wünschte, jemand anderes zu sein - die perfekte Tochter, jemand, der es Wert war, geliebt zu werden - waren längst vorbei. Schon viel zu früh hatte ich die Hoffnung darauf aufgegeben und stattdessen im Geheimen mein eigenes Ding gemacht.
Es hatte wohl eine ganze Menge passieren müssen, dass ich mich wirklich in meinen eigenen Körper zurückwünschen würde. Und dennoch hätte ich auch auf diese Erfahrung gerne verzichten können, sowie allem, was mit ihm zusammen hing.

Weder jetzt, noch kurz nach dem Schreckensmoment konnte ich mich daran erinnern, wie es sich angefühlt haben muss, seinen Körper zu verlassen und in einen anderen zu wechseln. Und doch wusste ich noch genau, wie es war, als ich realisiert hatte, dass dort wo mein Körper hätte seien sollen, nicht mein Körper war.
Als ich am heutigen Tag die Augen öffnete, hatte ich keine innere Panik, die ich verdrängen musste. Doch es war auch kein Freudenschrei, den ich versuchen musste, zu unterdrücken. Da war nichts, einfach nichts.

Stumm, mit offenen Augen und doch der Angst, es könne ein Traum sein, saß ich auf der breiten Matratze von Jimins Bett und betrachtete meine Hände, die definitiv nicht Jimins waren. Aus dem Augenwinkel sah ich das leichte rosa meiner Haarspitzen schimmern und ich wusste, würde ich mich aufraffen und die Decke wegschlagen, würde auch der Rest meines Körpers zum Vorschein kommen.
Es hatte funktioniert. Es hatte wirklich, ehrlich und wahrhaftig funktioniert. Ich war ich! Ich würde nie wieder spielen müssen, ich sei wer anders! Ich würde nie wieder meinen Körper ansehen müssen, mit dem Hintergedanken, dass er einfach nicht aussah, wie ich! Und ich würde nach Hause können. Wirklich, einfach nach Hause! Zu Sean, Aylin und Cady. Meine Familie würde ich als Beifang Wohl oder Übel auch dabei haben, diesen Schlag würde ich jedoch verkraften können.

Zunächst waren es nur meine Finger, welche ich genauestens unter die Lupe nahm. Als ich diese bis in die kleinste Falte geprüft hatte, wanderte ich meinen Bauch herunter zu den Beinen, bis ich meinen gesamten Körper bis ins kleinste Detail betatscht hatte. Erst danach traute ich mich wirklich aus dem Bett aufzustehen und mich dem großen Spiegel, welcher das letzte Mal meinen Untergang bedeutet hatte, zu stellen.
Nicht wissend, was ich sagen oder tun sollte, stand ich einfach dar. Es wirkte beinahe, wie vor 5 Wochen: überwältigend, unreal, merkwürdig.

Erneut strich ich mir mit den Fingern durch mein Gesicht. Glauben konnte ich es noch immer nicht wirklich. Und die Angst, das alles könnte doch nur ein Traum sein, verfolgte mich jede Sekunde.
Ich genoss es, durch meine langen rosa Haare zu fahren, sie kräftig durch zu wuscheln, nur um sie am Ende wieder glatt zu streichen. Und auch mein Gesicht müsste eigentlich völlig verdellt sein, so oft, wie ich meine rosa Lippen nachfuhr und mir die braunen Augen rieb, dessen Farbe ich in der letzten Zeit viel zu oft gesehen hatte, als das es mir lieb war.
Beinahe automatisch glitt mein Blick zu der schwarzen Reisetasche im Zimmer, die wir Aufgrund der Tatsache, dass ich mit den Mädchensachen sowieso nichts hatte machen können, bei Jimin hatten stehen lassen. Und genau, wie mir dort der Ärmel eines glitzernden Shirts jetzt schon entgegen winkte, dauerte es nicht lange, bis ich auf das kleine schwarze Täschchen stieß, in welchem sich meine beiden einzigen, jedoch heiligen Schminkutensilien - falls man meine Kontaktlinsen dazu zählen konnte - befanden.
Danach wanderten meine Hände weiter durch meine Tasche, auf der Suche nach meinen Klamotten, die endlich nicht mehr aus Jimins Kleiderschrank stammten. Und auch, wenn der ein oder andere ein schwarz-weißes Outfit als möglicherweise langweilig einstufen würde, war es genau das, was ich gerade brauchte. Hauptsache, es war ich.

Es war das erste Mal, seitdem ich hier war, dass ich den Gang ins Badezimmer nicht verabscheute. Im Gegenteil zu sonst, betete ich jetzt beinahe für jeden Spiegel, welcher mir zeigte, dass ich tatsächlich ich war.
Und kaum, dass ich endlich unter der Dusche stand, hatte ich das Gefühl nun auch den letzten Jimin-Rest von mir abwaschen zu können, bis ich mich noch mehr als Ich fühlte. Wobei dazu ein kleiner Schliff noch fehlte. Denn selbst, als ich mir meine Haare geföhnt und in meine Klamotten geschlüpft war, war ich definitiv noch nicht fertig.
Hatte der Körperbewohner der letzten Wochen sich in meinem Gesicht mit einem leichten Make-Up versucht, so setzte ich auf meinen scharfkantigen tiefschwarzen Eyeliner, den ich einfach aus Euphorie ein bisschen dicker, als gewohnt, zog. Und auch das dämliche Schlammbraun meiner Augen war mir viel zu sehr auf den Nerv gegangen, als das ich es noch einen Tag länger ertragen konnte.

Die nun mattblaue, beinahe schon graue Iris gepaart mit meinem strengen, dennoch komplett chaotischen Pferdeschwanz, aus dem ich zusätzlich die fordersten Strähnen herauszog, gaben mir nun endlich das Gefühl, das ich so sehr vermisst hatte.
Ich war wieder ich, ich war zurück! Zurück in mir, zurück in meiner Welt und hoffentlich bald auch zurück in meiner Heimat.

Anders, wie in Jimins Körper musste ich meinen Blick heute nicht mehr kontrollieren, die ausdruckslose Kälte beherrschte ich mit meinem eigenen Gesicht glücklicherweise tausendmal besser, als wenn ich diese von Natur aus strahlenden Augen des Jungen besaß. Dennoch warf ich noch einen letzten Blick in den noch leicht beschlagenen Badezimmerspiegel, zupfte mein zupfte mein Shirt zurecht und sprang förmlich aus der Tür.
Es war nicht der normalerweise stinklangweilige Flur mit den weißen Wänden, welcher mich Empfing. Das Gefängnis, welches jegliche Flucht verwehrt hatte hatte, hatte seinen Türen geöffnet und mir den Weg in die Freiheit geschenkt. Jegliche Regelungen bezüglich des Schutzes vor Fans, waren über Nacht aufgehoben, jegliche Begründungen, mich noch länger hier zu behalten, dahin.

Mit Freuden konnte ich kurz darauf feststellen, dass es mir endlich wieder besser gelang, meinen Körper unter der Kontrolle zu halten, die er gewohnt war. Und so viel es mir nicht sonderlich schwer meine innerlichen Freudensprünge zu unterdrücken und stattdessen ganz normal die Treppe herunter und in Richtung Küche zu gehen, in welcher ich auf gleich zwei der vielen Wohnungsbesitzer stieß.
Irgendwie war es merkwürdig die beiden an der Theke sitzen zu sehen. Es war mit der Zeit so normal geworden und gleichzeitig war es doch so komisch, ihnen nun nicht mehr als ihr Bandmitglieder zu begegnen, sondern als das, was ich war: Eine Fremde. Eine Fremde, die sie mit der Zeit kennengelernt hatten und gleichzeitig kaum etwas über sie wussten und welche sie schon sehr sehr bald zum letzten Mal in ihrem Leben sehen würden.

 Eine Fremde, die sie mit der Zeit kennengelernt hatten und gleichzeitig kaum etwas über sie wussten und welche sie schon sehr sehr bald zum letzten Mal in ihrem Leben sehen würden

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SWITCHED - Gefangen in einem fremden KörperWo Geschichten leben. Entdecke jetzt