Kapitel 1

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„Wie war die Klausur, Schätzchen?" „Keine Sorge, Mum, ich hab bestanden." Das leichte Lachen von meiner Mutter war zu hören. Für andere klang es vielleicht nett und höflich, in meinen Ohren jedoch beschwor es einen halben Nervenzusammenbruch hervor. „Daran habe ich auch nicht gezweifelt. Hat den Professor noch irgendetwas zu der Arbeit gesagt?" „Nein, aber er hat meine Arbeit als Musterlösung ausgeteilt." „Also hast du die volle Punktzahl erreicht?", hakte meine Mutter weiter nach. „Ich hab Extrapunkte für die letzte Aufgabe bekommen. Mr. Lenver war ziemlich begeistert von dem, was ich geschrieben hatte."

Was meine Mutter darauf noch antwortete, hörte ich nicht mehr. Aber wie ich sie kannte, würde sie Georgia sowieso wieder nur in höchsten Tönen loben und ihr unter die Nase reiben, wie stolz sie auf ihre Tochter war.
Ein leichtes Lächeln umspielte meine Lippen, als ich meinen Gedankenverlauf zurückverfolgte. ‚Ihre Tochter...'

Noch ein letztes Mal stellte ich sicher, dass die Tür meines Zimmers wirklich abgeschlossen war, bevor ich nach meiner schwarzen Lederjacke griff, um sie mir über das mit silbernen Pailetten besetzte Top zu ziehen. Der Frühling neigte sich dem Ende und der Sommer stand vor der Tür. Groß frieren sollte ich trotz der späten Uhrzeit nicht.
Mit ein paar schnellen Handgriffen band ich mir meine Haare zu einem hohen Pferdeschwanz zusammen. Ob da jetzt noch ein paar Hubbel waren oder nicht, interessierte mich recht wenig. Hauptsache ich hatte die rosa Strähnen nicht im Gesicht hängen. 
Ganz auf den Spiegel konnte ich schlussendlich doch nicht verzichten. Schließlich musste ich sicherstellen, dass mein schwarzer Eyeliner seine scharfe Kante behalten und über den Tag nicht verwischt war.
Nacheinander schloss ich meine Augen, zog meine Augenbrauen etwas hin und her... ‚Perfekt!'

Ich wollte mich schon wieder von meinem eigenen Anblick abwenden, als sich meine Aufmerksamkeit auf meine dunklen Augen richteten. Braune Pupillen starrten mich aus dem Spiegel mit einem Blick an, als würden sie meinen Körper am liebsten zu Eis gefrieren lassen. Von ganz alleine tasteten sich meine Finger ihren Weg vor, bis sie das schwarz glänzende Kästchen in der Hand hielten.
Ohne groß Zeit zu verlieren setzte ich auch noch die darin schlummernden graublauen Kontaktlinsen an Ort und Stelle, bevor ich meinen starr nach vorne gerichteten Blick abermals im Spiegel korrigierte.

Fröhliches Lachen war zu hören, als ich meine Beine über die breite Fensterbank meines Zimmers schwang. Wie es aussah unterhielten sich meine Mutter und Georgia noch immer über die tollen Noten meiner noch viel besseren Stiefschwester. Und wenn dann noch der Vater dieses Einsteins kommen würde, würden beide die gesamte Geschichte vermutlich noch einmal von sich geben. Es war zum Kotzen.
Wenigstens ließen sie mich so allesamt in Ruhe. Irgendetwas Gutes musste die Sache ja haben.

Mit einem letzten ironischen Lacher über meine Gedanken - die Zeit, in der ich versucht hatte, mir die Dinge schön zu reden, war schon lange vorbei - beförderte ich auch meinen restlichen Körper aus dem Fenster. Meine Füße fanden an der schmalen Rille in der Wand halt, meine Hände stützen sich noch immer auf dem Fensterbrett ab. Langsam, mit der Zeit immer schneller werdend , hangelte ich mich die wenigen Meter herunter bis ich spürte, wie die Nässe des Grases nicht nur meine Sneaker, sondern die Socken gleich mit aufweichte.
Einen Sicherheitsblick über die Schulter konnte ich mir sparen. Das Wohnzimmer lag auf der anderen Seite des Hauses und das Fenster des Bades war weit genug entfernt, als das ich Angst vor unerwünschten Beobachtern haben müsste.

Wenig später erfolgte die nächste Kletterhürde. Allerdings waren die knappen fünf Fuß der Gartenmauer nichts im Vergleich zu dem, womit ich meine freien Stunden sonst verbrachte.

Es überraschte mich immer wieder, wie schnell man mit der Überwindung weniger Hindernisse die feinen, geometrisch perfekten Anwesen von uns und unseren Nachbarn hinter sich lassen und in die düsteren Stadtteile von Los Angeles gelang. Keine Viertelstunde, nachdem ich aus unserem schneeweißen Haus geklettert war, hatte mich die Dunkelheit bereits völlig eingehüllt und meine platinrosa Haare waren das einzige, was dieser Finsternis noch Widerstand leistete.

SWITCHED - Gefangen in einem fremden KörperWo Geschichten leben. Entdecke jetzt