°○ Maria ○°
"Jetzt zeig ich dir mal dein Zimmer", sagte die Betreuerin, Anfang zwanzig mit rot gefärbten Haaren, welche sie in einem hohen Pferdeschwanz zusammen gebunden hatte und lief voraus, den Korridor des Hauses entlang und dann links die hintere Treppe hinauf in den ersten Stock. Überall hier war es weihnachtlich geschmückt.
In der Ecke neben der Haustür standen Holzfiguren in Form eines Weihnachtsmannes, eines Rentieres sowie eines Schneemannes. An die Scheiben der Fenster waren kleine Engel und Sterne mit weißer und goldener Farbe gemalt worden. An der hinteren Wand des Esszimmers hing ein Adventskalender: rotweiße Socken an einer langen Leine entlang aufgereiht, alle mit jeweils einer Nummer zwischen eins und vierundzwanzig bestickt.
Das schönste von allem war jedoch der Weihnachtsbaum, welcher im Wohnzimmer neben der Terassentür stand und mit Strohsternen, blauen Kugeln, goldenen Glöckchen und einer Lichterkette geschmückt war.
Insgesamt machte die Wohngruppe einen ganz netten Eindruck, wobei es jedoch auch nicht schwer gewesen war, meine Erwartungen zu enttäuschen. Laut denen sah es in Wohngruppen nämlich grundsätzlich aus wie in einem dieser Gefängnisse, in jenen Psychofilmchen, welche Manuel sich gerne im Fernsehen anschaute.
Mein Zimmer, wie die Betreuerin es nannte, war ziemlich klein, hatte aber alles, was man so brauchte: ein Bett mit einem Nachttisch daneben, ein Schreibtisch mit einem Stuhl davor sowie einem Bücherregal darüber, eine kleine Sitzecke unterm Fenster und einem Kleiderschrank mit Spiegel.
"Dein Badezimmer ist direkt gegenüber. Das teilst du dir mit den anderen Mädchen", erklärte die Betreuerin - sie hatte sich vorhin, als ich mit der Frau vom Jugendamt hergekommen war, vorgestellt, aber ich hatte ihren Namen kurz darauf schon wieder vergessen.
"Okay", meinte ich.
"Wir haben dir erst mal ein paar Klamotten vom Dachboden geholt." Der Rotschopf öffnete die Türen des Kleiderschranks, da lagen ein paar Sachen, ordentlich gefaltet und übereinandergestapelt. "Deine eigenen Klamotten organisieren wir uns dann später her. Und andere wichtige Sachen. Da kannst du ja eine Liste für schreiben, wenn du Lust hast."
"Okay", meinte ich wieder nur und räusperte mich.
"Jetzt möchtest du dich sicher erst mal ein bisschen einleben, oder?" Die Betreuerin sah mich an, ein freundliches Lächeln im Gesicht. "Du kannst dich sonst auch gerne zu den anderen Kindern ins Wohnzimmer setzen und ein bisschen fernsehen."
"Lieber nicht", sagte ich.
"Um sieben Uhr gibt es Abendessen."
"Okay."
"Möchtest du sonst noch etwas wissen?"
"Nein", sagte ich.
"Wenn du noch etwas brauchst, oder... einfach quatschen willst, dann komm einfach zu mir. Hier sind immer zwei Betreuer über Tag. Und Nachtdienst hat immer einer."
Ich schwieg.
Der Rotschopf lächelte wieder, legte mir eine Hand auf dem Arm und rieb kurz darüber. "Alles klar! Alex oder ich schauen dann nachher noch mal nach dir."
"Okay", sagte ich. "Vielen Dank fürs Zeigen und... so."
Als die Betreuerin das Zimmer verlassen hatte, schaute ich mich noch eine Weile im Zimmer um.
Dann setzte ich mich aufs Bett.
Zog Leons Handy, welches er mir vorhin geliehen hatte, aus der Jackentasche, entsperrte es und rief Mehmets Nummer an.
Dieser meldete sich nach dem dritten Klingeln.
"Hey Maria!" Im Hintergrund war laute Musik zu hören.
"Hi", sagte ich.
Ein Mädchen kreischte und ein Junge lachte daraufhin.
"Ali, jetzt lass das doch mal!" Verenas Stimme.
"Und, bist du schon in der Wohngruppe?", fragte Mehmet
"Ja, jetzt gerade angekommen."
"Und wie ist es so?"
"Ganz nett", antwortete ich. "Die Betreuerin hat mir schon alles gezeigt."
"Und jetzt bist du in deinem Zimmer?"
"Ja", sagte ich, dann räusperte ich mich wieder. "Könnte ich vielleicht mal mit Leon sprechen?"
"Klar, der ist gerade in der Küche. Warte mal eben!" Ich hörte, wie die Musik und das Lachen im Hintergrund leiser wurde.
"Ist sie das?" Leons Stimme. Er klang aufgeregt. "Hey Süße! Na, wie geht's dir? Wo bist du gerade?"
"Schon in der Wohngruppe", antwortete ich.
"Und, wie ist es da so?", fragte Leon.
"Ganz nett", antwortete ich wieder.
"Und wie sind die Leute da?"
"Ich...weiß nicht. Bin ja gerade erst hier", sagte ich. "Die Betreuer waren ganz nett und... die anderen Kinder sind irgendwie komisch."
"Was meinst du mit komisch?"
"Ja... keine Ahnung... Das eine Mädchen hat so wilde Haare irgendwie und ganz schwarz. Und der eine Junge ist ganz dünn und... irgendwie unheimlich... ich weiß nicht... so wie der guckt."
"Hast du dich denn schon mit jemanden von denen unterhalten, oder-"
"Wir haben unsere Namen gesagt."
Wie viele Bewohner sind da denn?"
"Ich weiß nicht genau... schon ein paar mehr."
"Und was macht ihr gerade?"
"Ich bin in meinem Zimmer", antwortete ich. "Und die anderen... weiß ich nicht. Ein paar von denen sitzen im Wohnzimmer und gucken Fernsehen. So einen Actionfilm. Mit Autos."
"Fast and Furious", meinte Mehmet.
"Klingt doch cool", sagte Leon.
"Ja... na ja..." Ich nieste. "Tut mir leid... ja... also, sowas ist eher nichts für mich."
"Kannst dich aber ja trotzdem mal dazu setzen."
"Also... ja... ich will im Moment glaub ich lieber alleine sein."
"Ja, okay...", sagte Leon und ich meinte dabei förmlich vor mir sehen zu können, wie er die Augen verdrehte. "Aber später gehst du dann noch ein bisschen unter die Leute."
"Ja... um sieben gibt es Abendessen."
"Gut", sagte Leon.
"Und was macht ihr noch so heute?"
"Wir gehen nachher noch ins Zoney."
"Oh ja... die Weihnachtsfeier." Daran hatte ich gar nicht mehr gedacht.
"Wer ist denn gerade alles da?"
"Ja, Ali und Verena sind vorhin noch gekommen", erzählte Leon.
"Und Melanie?"
"Die ist noch bei ihrer Schwester."
"Oh!", sagte ich.
"Ja... voll schade, dass du heute nicht dabei bist."
"Ja, tut mir auch leid... das alles."
"Das muss es doch nicht!", sagte Leon und stieß dabei ein Geräusch aus, bei dem ich mir nicht sicher war, ob es sich dabei um ein Lachen oder ein Schnauben handelte. "Hast dir das doch nicht ausgesucht, wie das alles gelaufen ist!"
"Ja... hab mich aber auch viel angestellt heute", sagte ich. "Hätte mich besser zusammenreißen müssen."
"Was laberst du?"
"Ist doch so!"
"Süße, das ist-"
"Wäre ich nicht die ganze Zeit so ausgeflippt, dann wäre ich jetzt bestimmt noch zu Hause."
"Und das wäre gut?"
"Natürlich wäre das gut!"
"Du meinst, damit dieses Schwein-"
"Er ist mein Vater!"
"Ich weiß." Leon seufzte.
Eine Weile sagte keiner von uns etwas, dann ergriff Leon wieder das Wort: "Passt es dir, wenn ich dich Morgen mal besuchen komme?"
Ich antwortete nicht.
"Maria?"
"Ja... also... um ehrlich zu sein, passt mir das Morgen eher nicht", sagte ich und biss mir dann gleich auf die Unterlippe. Hätte ich das vielleicht lieber nicht sagen sollen?
"Oh... ja... okay." Die Enttäuschung in Leons Stimme war nicht zu überhören. "Dann vielleicht Übermorgen?"
"Ich weiß nicht...", sagte ich.
"Was weißt du nicht?"
"Geht mir im Moment halt nicht so gut."
"Ja.... ich weiß."
"Tut mir leid."
"Schon gut!", meinte Leon und schien hörbar darum bemüht, unbeschwert zu klingen, auch wenn er in Wahrheit sicher alles andere als begeistert darüber war, dass ich ihn abblitzen ließ. Aber wer konnte ihm das auch verdenken?
Ich war ja selber nicht glücklich darüber, dass ich mich jetzt schon wieder so anstellen musste.
Hätte ich vielleicht besser lügen sollen?
Hätte ich so etwas sagen sollen, wie "Gute Idee, ich kann es kaum erwarten. Warum ziehst du nicht gleich mit zu mir ins Zimmer?"
Ich wollte ihm nicht wehtun, dachte ich.
Aber warum tat ich es dann immer wieder?
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Vogelscheuche und Gürtelschnalle - Teil 2
Teen FictionEndlich hat Maria es offenbart. Das Geheimnis, welches so lange schon ihr Leben bestimmt. Jetzt ist alles anders. Aber ist es auch besser? *~~•~~* Fortsetzung von: Vogelscheuche und Gürtelschnalle, Teil 1: Offene Wunden *•~~• MARIA •~~•* Ich wollt...