60. Bist du wirklich so gestört?

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°○ Maria ○°

"Maria?" Manuel vor meiner Tür. Er klopfte an, dreimal hart und schnell.
"Bist du da?"
"Was machst du hier?"
Mein Bruder kam ohne weitere Worte herein, sah sich in meinem Zimmer um. Und setzte sich dann auf mein Bett.
"Ich wollt dich nur mal eben besuchen kommen."
"Ich hätte nackt sein können!"
"Dann hättest du abgeschlossen."
"Ich hab doch gar keinen Schlüssel!", motzte ich und wandte mich dann wieder dem Bild vor mir auf dem Schreibtisch zu.
"Was tust du da?"
"Nichts!", antwortete ich, hörte im nächsten Moment, wie mein Bruder unter einem leisen Knarzen des Lattenrostes vom Bett aufstand und hinter mich trat.
"Seit wann zeichnest du?"
"Noch nicht so lange."
"Zeig mal her!" Schneller, als ich es verhindern konnte, riss Manuel mir das Blatt aus der Hand und betrachtete es, dabei verwandelte sich sein belustigtes Grinsen zunächst in echtes Interesse. Und dann in einen Ausdruck des Missfallens.
"Was soll das sein?"
"Hat Leon dir gesagt, dass du kommen sollst?"
"Seit wann hat Leon mir was zu sagen?"
"Dann hat Richard dich dazu gezwungen."
"Er hat mich nicht gezwungen!", entgegnete Manuel, dann wies er wieder zum Bild: "Was ist das jetzt für ne Deprischeiße?"
"Du kommst mich doch nicht einfach so besuchen!" Erneut lenkte ich von der Frage ab. Was sollte ich ihm auch erzählen? Er hatte sich doch eh schon seine Meinung gebildet!
"Ich bin hier, oder nicht?" Manuel sah mich an.
"Ja", sagte ich. Und lachte. "Fragt sich nur, warum."
Ein Moment des Schweigens entstand.
Ich ließ ihn andauern. Was sollte ich mich auch bemühen, irgendein Thema zu finden? Irgendetwas unverfängliches, über dass ich mit meinem Bruder reden konnte. Ohne, dass er es mir direkt um die Ohren haute oder mich anherrschte, dass mich dieses oder jenes einen Dreck was anging.
Da gab es nichts!
Gar nichts mehr zwischen uns. Schon lange nicht mehr, erkannte ich, nicht zum ersten Mal, spürte, wie sich ein Kloß in meinem Hals bildete und schluckte ihn direkt hinunter. Ich wollte jetzt nicht heulen. Nicht schon wieder. Und erst recht nicht vor Manuel. Auf sowas wartete er doch nur!
"Wie läuft es in der Schule?"
"Ganz gut."
"Hast du noch Stress mit deinen Mitschülern? Diesem Adrian und-"
"Nein!"
"Und wie ist es hier?", fragte Manuel weiter. "Kommst du klar?"
Ich nickte.
"Gut."
Von nebenan ertönte mit einem Mal die laute Musik irgendeines dauerfluchenden und frauenfeindlichen Hip-Hoppers, welche Luca zwar so ziemlich jeden Tag hörte, ich jedoch immer noch nicht benennen konnte.
"Jetzt sag mal eben! Bist du das?", Manuel zeigte mir erneut das Bild, deutete dabei auf das Mädchen in dessen Mitte, gekleidet in Lumpen und aus beiden Armen blutend. Drum herum hatte ich viele hässliche Fratzen gezeichnet, manche von ihnen bestanden nur aus starrenden Augen.
"Was interessiert dich das?"
"Bist du dieses Selbstmord-Mädchen, oder nicht?", fragte mein Bruder weiter, jetzt so laut, dass ihn wohl alle hören könnten, wenn die Musik nicht wäre. Luca nebenan, genauso wie Daniel, Eileen und Laura im ersten Stock, ganz zu schweigen von den Betreuern.
"Ich hab dich was gefragt!"
Tränen begannen in meine Augen zu steigen. Ich kniff sie zu. Nicht jetzt! Bitte noch nicht, flehte ich. Ich will nicht so eine sein! Die, die immer heult! Erst recht nicht vor jemandem wie Manuel! Der gäbe mir dann nur die Schuld an allem!
Das hatte er früher schon-
"Maria!" Manuels Hand an meinem Kinn. Er zwang meinen Kopf zu sich hoch, sah mich an. "Was wird das jetzt hier?"
Ich schwieg.
"Hast du noch mehr von solchen Bildern?"
In meinem Bauch rumorte es, mein Herz begann schneller zu schlagen. Ich schluckte. "Das geht dich nichts an!"
"Wenn du hier einen auf Psycho machst, geht mich das was an!", meinte Manuel, seine Augen bohrten sich nun regelrecht in meine. "Du bist meine Schwester!"
"Ja schön!", zischte ich. "Deswegen brauchst du noch lange nicht alles zu wissen!"
"Soll ich mal dein Zimmer durchsuchen?"
"Nein!"
"Dann gib mir die Mappe!"
"Welche Mappe?"
"Jetzt mach nicht einen auf dumm!", fuhr Manuel mich an. "Leon hat mir von deiner kleinen Sammlung erzählt."
"Was?" Ich starrte ihn an. "Warum macht er denn so ne Scheiße?"
"Er macht sich Sorgen um dich."
"Aber... warum? Ich-"
"Zeig mal deine Arme her!"
"Nein!"
"Zeig sie her, Maria! Ich sag's nicht nochmal!"
"Ich mach gar nichts!"
"Gut", sagte mein Bruder. Und packte mich in der nächsten Sekunde dann fest am Handgelenk.
"Lass mich! Manuel!"
"Schh... sei leise!"
Er schob mir den Ärmel hoch.
"Was tust-?"
"Halt den Mund!", fuhr mein Bruder mir dazwischen, legte als nächstes meinen rechten Arm frei, ganz egal, wie sehr ich mich dagegen wehrte.
"Jetzt guck dir das mal an!" Er hob den Arm an mein Gesicht. "Guck hin, du dumme Kuh!"
"Lass m-mich in R-R-Ruhe!" Ich schluchzte jetzt.
"Das hat sich schon richtig entzündet!"
"Ist mir egal!"
"Warum machst du so ne Scheiße?", schimpfte Manuel, riss mich nun am Kragen meines Kapuzenpullovers hoch zu sich, so nah, dass sich schon fast unsere Nasen berührten.
"Bist du wirklich so gestört?"
"Fick dich!", heulte ich. Da flog direkt seine Hand an mein Gesicht und ich kurz darauf aufs Bett, so hart, dass ich mit dem Hinterkopf an die Wand knallte. Und mir auf die Zunge biss.
"Auaahh!"
"Halt jetzt bloß die Fresse, du Schlampe!", drohte Manuel. "Sonst verpass ich dir gleich noch eine!"
Er begann mein Zimmer zu durchsuchen. So schnell und zugleich akribisch, als täte er seit Jahren nichts anderes, kontrollierte er den Boden, die Nischen und Fußleisten, kurz darauf die Regale, mein Bett sowie die Schränke. Unordnung machte er dabei keine und trotzdem fand er alles, was er suchte: Meine Sammelmappe und natürlich auch die Spiegelscherbe in ihrem Versteck.
"Damit hast du es gemacht." Triumphierend hielt er sie mir vors Gesicht. "Stimmt doch, oder?"
Ich nickte, weinte so heftig dabei, dass es mich schüttelte.
"Meine Güte!" Ein spöttisches Lachen in Manuels Stimme. "Du stellst dich auch an!", meinte er und setzte sich neben mich. "Große Klappe und nichts dahinter!" Er legte einen Arm um mich, rieb mir etwas über den Rücken und warf mir dann ein angebrochenes Päckchen Taschentücher in den Schoß: "Da, mach dich mal sauber! Müssen ja nicht alle mitkriegen, wie du dich zum Affen machst!"
Ja und wenn, dann kriegst du Ärger, dachte ich, nahm ein Tuch und wischte mir damit durchs Gesicht. Und dann kann ich mich erst richtig in Acht nehmen!

Vogelscheuche und Gürtelschnalle - Teil 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt