11. Das ist er bestimmt schon

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°○ Leon ○°

"Regen ist nass!", jammerte Minchen und wollte gleich ins Haltestellenhäuschen verschwinden, nachdem wir an der Sonja-von-Kampeneck-Straße aus dem Bus gestiegen waren und der Regen in nadeldünnen Tropfen vom Himmel fiel.
"Nein, nicht da rein! Komm mal mit jetzt!", meinte ich, zog meine Schwester an der Hand zurück und schob ihr dann die Kapuze ihrer grauen Strickjacke über den Kopf; so würden wenigstens ihre Haare trocken bleiben, auch wenn die dünne Wollschicht ihres Oberteils dem kalt-nassem Wetter an sich genauso wenig entgegenzusetzen hatte wie mein Kapuzenpullover.
"Du hast doch gar keine vernünftige Jacke an, Minchen. Und es friert schon, da darfst du nicht so lange draußen stehen." Ich führte sie mit mir von der Bushaltestelle weg die Straße entlang, wobei wir schon nach wenigen hundert Metern bis auf die Haut durchnässt waren.
"Alles nass!", quengelte Minchen wieder.
"Wir sind gleich da.", antwortete ich. "Dann wärmen wir uns auf. Was ist? Jetzt komm weiter!", sagte ich und zog etwas stärker an ihrem Arm, als meine Schwester stehen bleiben wollte.
"Tut weh!", sagte sie.
"Nur noch ein bisschen laufen, dann hast du es geschafft!"
"Nein" , entgegnete Minchen und wollte sich auf den Fußweg setzen, doch ich hinderte sie daran.
"Was soll denn das? Du kannst dich doch hier nicht einfach auf die Straße setzen!", schimpfte ich. "Komm weiter!"
"Tut weh!"
"Was tut dir weh?" Ich hockte mich vor meiner Schwester hin und musterte sie, die erwiderte einen Moment lang meinen Blick, verzog dann das Gesicht und begann zu weinen.
"Zeig doch mal! Was tut dir weh?", fragte ich erneut.
Meine Schwester legte sich die Hände auf dem Bauch, da verstand ich endlich, was mit ihr los war.
"Du hast Bauchschmerzen."
"Aua!"
"Ist dir denn auch schlecht?"
"Ja."
"Oh Mann!" Das erklärt einiges, dachte ich. "Dann legst du dich gleich besser mal etwas hin."
Ich stand wieder auf. "Kommst du jetzt weiter?"
"Will nicht weiter!", schluchzte Minchen.
Ja, super! Was fragte ich auch?
"Willst du auf den Arm?" Ich beugte mich zu ihr herunter und breitete die Arme aus. "Na komm!"
Ich trug sie den Rest des Weges, passierte noch ein paar Wohnblöcke, bis wir die Nummer sechsundzwanzig erreichten und drückte dann die zweite Klingel von oben.
Ein Knacken im Lautsprecher, dann Mehmets Stimme.
"Ja?"
"Hey", sagte ich und gab Minchen einen Kuss auf die Wange, die weinte immer noch. "Stör ich gerade?"
"Nee, komm ruhig hoch."
Der Summer ertönte.
"Hätte heute gar nicht mit dir gerechnet", sagte Mehmet, als ich mit Minchen auf meiner Hüfte sitzend und schon ein wenig außer Atem den vierten Stock des Hauses erreichte. "Wen hast du denn da mitgebracht?"
Er streckte die Hand nach Minchen aus und strich ihr über die Schulter, die verbarg ihr Gesicht daraufhin nur noch mehr in meiner Brust.
"Minchen geht's gerade nicht so gut", meinte ich, betrat die Wohnung und schloss die Tür hinter mir. "Gab Stress zu Hause. Da wollte ich sie da lieber nicht alleine lassen."
"Klar", meinte Mehmet und sah zu meiner Schwester, die sich immer noch fest um mich klammerte, nachdem ich sie auf dem Boden abgestellt hatte.
"Was war denn wieder?"
"Richard ist ausgerastet", erzählte ich.
"Eimer ist umgefallt", schluchzte Minchen.
"Was meint sie?", fragte Mehmet.
"Da ist ein Eimer umgekippt", erklärte ich. "Das hat dann die halbe Küche unter Wasser gesetzt."
"Ich hab gestoßt", sagte meine Schwester.
"Ja, aus Versehen." Ich legte ihr eine Hand auf die Schulter. "Sowas kann ja mal passieren."
"Nein!"
"Ist doch gut... Hey... Das war doch keine Absicht, Minchen", beruhigte ich sie. "Papa hätte sich darüber nicht so aufregen dürfen."
"Papa hat schlimm aufgeregt!", weinte Minchen.
"Ja, ich weiß." Ich sah Mehmet an. "Ich steck sie mal eben unter die Dusche."
"Will nicht in die Dusche!", heulte Minchen.
"Doch, das muss", sagte ich. "Du bist doch ganz kalt geworden da draußen ohne Jacke. Komm!", meinte ich und wollte Minchen an die Hand nehmen, doch die ließ das nicht zu und setzte sich dafür nun auf dem Boden.
"Minchen!" Ich seufzte, ging vor sie in die Hocke und sah sie an. "Was wird das jetzt?"
Meine Schwester antwortete nicht, zog die Beine stattdessen noch enger an den Körper und schlang die Arme darum.
"Ich hab dir doch auch dein Lieblingsshampoo eingepackt."
"Will nicht in die Dusche!"
"Du willst doch nicht schon wieder krank werden, oder?"
"Mir ist schlecht."
"Ja... das ist blöd, ich weiß", meinte ich und strich Minchen über den Rücken. "Da kann ich dir ja auch gleich einen Tee machen, wenn du mit dem Duschen fertig bist."
Minchen schniefte.
"Möchtest du das?"
"Was ist mit Mama?"
"Mit der ist alles gut", log ich. "Die muss jetzt nur ein bisschen schlafen."
"Ich muss zu ihr gehen!"
"Bald." Ich küsste sie, dann stand ich auf. "Aber jetzt bleibst du erst mal bei mir", sagte ich und packte Minchen an den Armen.
"Komm!" Ich hob sie hoch. Strich ihr die Kapuze vom Kopf. Wollte ihr noch einen Kuss geben. Und wandte dann schnell den Kopf zur Seite, als sie sich über meinen Pullover erbrach.
"Fuck!", entfuhr es Mehmet.
"Ja... Tut mir leid." Ich warf einen Blick zum Boden, auf dem waren einige Spritzer von Minchens Kotze gelandet, wobei mein Pullover noch deutlich mehr abbekommen hatte. "Ich wisch das sofort wie-"
"Nee, lass! Ich mach das schon. Kümmer du dich mal lieber um deine Schwester."
Er nickte zu Minchen, die lag jetzt halb schluchzend und halb hustend in meinen Armen, während ihr ein Rest Erbrochenes als zäher Faden vom Kinn hing.
"Okay... danke", sagte ich, dann wandte ich mich wieder an meine Schwester. "Alles gut, Minchen! Komm, wir gehen dich mal saubermachen."
"Bist du böse?"
"Nein, Quatsch!"
"Hab alles vollgespuckt."
"Ja und? Das macht doch nichts."
Ich lief mit ihr ins Badezimmer und schloss die Tür hinter uns.
"Das kann man alles waschen", meinte ich, ließ Minchen von meinem Arm herunter und zog mir dann gleich den Pullover aus, sorgsam darauf bedacht, nicht aus Versehen dabei mit dem Erbrochenen in Berührung zu kommen. "Guck, hier!"
Ich öffnete die Waschmaschine links neben der Tür und schmiss den Pullover in die Trommel.
"So, und jetzt du!", sagte ich, fasste den Bund an Minchens Pullover und zog ihn ihr über den Kopf.
Nachdem ich ihr die nassen Klamotten ausgezogen und ebenfalls in die Waschmaschine gesteckt hatte, nahm ich schnell meinen Zahnputzbecher von der Ablage, füllte ihn mit kaltem Wasser und gab ihn dann an Minchen weiter.
"Hier, trink!"
Meine Schwester tat es, setzte den Becher an die Lippen und leerte ihn in einem Zug.
"Gut?", fragte ich
"Gut", sagte Minchen.
"Willst du jetzt mal duschen?"
Minchen schüttelte den Kopf.
"Schön mit warmen Wasser?", fragte ich weiter, zog den Rucksack meiner Schwester zu uns rüber, öffnete dessen Reißverschluss und kramte darin nach der Packung mit Taschentüchern.
"Will nicht duschen!"
"Ich kann dir auch Musik dabei anmachen."
"No Ängels!"
"Meinetwegen." Ich verdrehte die Augen, entfaltete dann ein Taschentuch und hielt es meiner Schwester vor die Nase. "Los, komm!"
Minchen schnäuzte sich.
"Noch mal!", forderte ich. "Alles rausputzen!"
Minchen tat es.
"Super!", lobte ich sie, wischte ihr nochmal die Nase ab und nickte dann in Richtung Dusche. "Und jetzt ab!"
Endlich gehorchte Minchen, wandte mir den Rücken zu und-
Ich schnappte nach Luft.
-stieg unter die Dusche.
Verdammtes Arschloch!
"Wenn Se Ängels Zing!", rief meine Schwester.
"Ist gut", sagte ich, nahm mein Handy, machte das von ihr gewünschte Lied When The Angels Sing von den No Angels an und stellte es auf Repeat.
Dann lief ich zur Dusche und drehte das Wasser auf.
"Kalt!" Meine Schwester verschränkte die Arme vor der Brust.
"Gleich wird dir wieder warm", meinte ich, ließ mir das Wasser eine Weile über die Hand laufen, so lange, bis es eine angenehm warme Temperatur hatte und hielt die Brause dann in Minchens Richtung.
Die zuckte daraufhin jäh zusammen. "Will nicht kalt!"
"Das Wasser ist nicht kalt. Jetzt komm-"
"Bitte nicht kalt!"
"Wir duschen dich eben ab. Schön warm. Dann geht's dir gleich besser."
"Bitte nein!" Meine Schwester drückte sich nun in die Ecke der Dusche, die Augen vor Angst weit aufgerissen.
"Was denn, Minchen? Ist doch alles gut", sagte ich.
Aber in Wahrheit war natürlich gar nichts gut. In Wahrheit war alles sogar noch viel schlimmer, als ich es hatte wahrhaben wollen!
"Bitte nicht kalt!", heulte Minchen.
Das darf doch nicht wahr sein, dachte ich. Brutales Schwein!
Als ob die Prügel nicht schon genug gewesen war! Die roten Striemen an Minchens Rücken, einige davon blutig.
Nein, er hatte sie auch noch unter die Dusche gezerrt! Hatte sie dort mit eiskaltem Wasser gequält, genauso, wie er es bei mir immer gemacht hatte, damals, als ich noch kleiner gewesen war.

Vogelscheuche und Gürtelschnalle - Teil 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt