°○ Maria ○°
"Wir müssen auch noch ein bisschen was für Mehmet besorgen", meinte Leon und hielt mich an der Hand zurück, als ich schon an den Einkaufswagen vorbei in den Laden gehen wollte.
"Was braucht er denn alles?", wollte ich wissen.
"Keine Ahnung", antwortete Leon, nahm sein Portemonnaie, suchte ein Eurostück heraus und schob es in den Schlitz von einem der Wagen, um diesen von der Kette zu lösen. "Ich wollte ihm halt nur son bisschen was mitbringen, weil ich ja auch immer so oft bei ihm übernachte."
"Achso."
"Ja... ich dachte, son bisschen Obst, Müsli... ein paar Dosen Tomaten... mal gucken."
"Okay."
Wenige Minuten später konnte man im Wagen schon keinen Boden mehr sehen und da waren wir noch nicht mal in der Getränkeabteilung gewesen.
"Meinst du, das kriegen wir alles so mit?", fragte ich und warf einen skeptischen Blick in den Wagen, welchen Leon neben mir her durch die Gänge schob.
"Klar", antwortete Leon. "Wenn wir beide mit anpacken, ist das keine große Sache. Zwei Tüten für jeden, schätze ich mal."
"Okay", sagte ich wieder. Und mit diesem ganzen Gepacke sitzen wir dann gleich im Bus, wo wir anderen damit die Plätze wegnehmen oder, was sie noch viel mehr begeistern würde, ihnen damit den Weg versperren, dachte ich und stieß ein bitteres Lachen aus.
Das klang doch nach Spaß!
"Was ist los?", fragte Leon.
"Nichts", sagte ich.
"Und was war das gerade für ein Lachen?"
"Ja... Ach... da hab ich gerade nur über was nachgedacht... nicht so wichtig."
"Über was hast du nachgedacht?"
"Na ja... so übers Einkaufen", meinte ich und erstarrte dann im nächsten Moment, als mein Blick auf die Drogerie-Abteilung einige Meter von uns entfernt fiel, in der Julia Fecht gerade dabei war, eine Schampoo-Flasche zu öffnen und daran zu riechen. "Scheiße!"
"Was denn?", fragte Leon, dann folgte er meinem Blick. "Achso, ja..." Er musterte mich belustigt. "Willst du dich jetzt irgendwo verstecken, oder kommst du klar?"
"Mach dich nicht über mich lustig!", zischte ich, sah wieder zu Julia rüber und richtete die Augen dann schnell zurück aufs Chipsregal, bevor sie mich bemerken konnte.
"Was soll ich denn sonst machen, wenn du dich so anstellst?", fragte Leon, dann wurde sein Grinsen noch breiter. "Wenn du willst, kann ich sie ja mal herrufen."
"Untersteh dich!"
"Dann könnt ihr zwei euch ein bisschen unterhalten. Wäre doch nett."
"Mit der unterhalte ich mich bestimmt nicht freiwillig!"
"Wieso denn nicht? Letztens hast du doch noch gesagt, ihr seid beste Freundinnen."
"Das waren wir vielleicht mal", meinte ich.
"Ja, stimmt... Damals... da war sie ja noch so nett gewesen und hat dich nach ihrem Geburtstag auf der Straße schlafen lassen."
"Im Garten", murmelte ich und warf einen weiteren Blick rüber zum Schampoo-Regal, wo Julia nun damit beschäftigt war, in ihr Handy zu gucken."
"Ja, wie auch immer. Garten oder Straße." Leon zuckte die Achseln. "Ist doch vom Prinzip her das Gleiche."
Ja, dachte ich, von der Temperatur her auf jeden Fall und schauderte bei dem Gedanken an jener Nacht, in der ich mich so hilflos gefühlt hatte, wie es vorher nie der Fall gewesen war.
Wie ich da ganz allein im dunkeln Garten wach geworden war, nass bis auf die Haut und schon völlig taub vor Kälte. Ich hatte gar nichts mehr gewusst, weder wo ich war, noch wie ich dort hingekommen war, noch sonst irgendwas.
Ohne Leon wäre ich damals verloren gewesen. Wenn er nicht gekommen wäre, um mich da von der Straße weg zu holen und mich mit zu Mehmet genommen hätte. Keine Ahnung, was dann passiert wäre.
"Wollen wir jetzt mal weiter?", fragte Leon. "Ich brauch noch was zu Trinken."
Und von dem, was er heute alles trinken wollte, schien Leon schon eine ziemlich genaue Vorstellung zu haben, da brauchte er nur einmal am Regal vorbeizulaufen und es verschwanden direkt zwei Flaschen in den Innentaschen seines Mantels.
"Und was hast du dir da jetzt alles ausgesucht?", fragte ich, als Leon schon von den Schnapsflaschen weg und ein Regal weiter lief.
"Nur Wodka", antwortete Leon, ging jetzt ans Regal mit den Energys, nahm sich einige Dosen davon herunter und legte sie in den Einkaufswagen.
"Und damit mischt du das?"
"Ja, das trinken wir momentan ganz gerne", meinte Leon. "Aber für dich ist das wohl eher nichts."
"Ja... ich weiß eigentlich auch gar nicht wirklich, was ich so mag."
Leon überlegte kurz. "Magst du Kokosgeschmack?"
Ich nickte. Ich mochte es nicht nur. Ich liebte es.
"Dann würde sowas wie Batida-Kirsch passen."
"Was ist das?"
"So ein Kokoslikör mit Kirschnecktar."
"Das klingt lecker."
"Ist es auch." Leons Handy klingelte.
Er kramte es aus der Tasche hervor, warf einen Blick darauf und stöhnte genervt auf. "Das war ja klar."
"Wer ist es denn?", fragte ich.
"Ali", antwortete Leon und nahm das Gespräch dann an. "Ja?... Im BEZ. Warum?" Ein weiteres genervtes Stöhnen. "Und was genau?... Da muss ich gucken. Wart mal eben." Leon gab mir einen Kuss. "Bin gleich wieder da, Süße. Such dir ruhig noch was aus, irgendwas zum Naschen oder so, egal." Er küsste mich erneut, dann verschwand er.
Etwas zum Naschen, dachte ich und sah in den Einkaufswagen, wo Leon neben Chillichips und gesalzenen Nüssen auch schon eine Tüte Gummibärchen und Schokoladenkekse reingelegt hatte. Allein der Anblick verursachte mir Bauchschmerzen. Für so ein Zeug fehlte mir im Moment jeglicher Appetit, genauso wie für richtiges Essen.
Natürlich ließen die Betreuer in der Wohngruppe das nicht gelten und bestanden darauf, dass ich bei jeder Mahlzeit wenigstens ein bisschen was zu mir nahm und wenn es nur eine Kartoffel war oder eine Scheibe Brot.
Hätte ich die Wahl, würde ich einfach gar nichts mehr essen. Dann würde ich einfach im Bett liegen und die Wand über mir anstarren, vielleicht auch mal ein bisschen schlafen, wenn ich Glück hätte. Aber wann hatte ich das schon? Die Wahl, selber darüber entscheiden zu können, was ich tun und lassen wollte? Das taten doch immer nur die anderen. Und ich hatte mit zu spielen, ob ich nun wollte, oder nicht. So war das schon immer gewesen.
Früher war es immer Vater gewesen, der über alles bei mir bestimmt hatte. Und ich hatte es nie in Frage gestellt. Warum hätte ich das auch tun sollen? Vater hatte mich von allen Menschen immer am besten gekannt. Hatte immer ganz genau gewusst, was gut für mich war. Was er mir besser verbieten sollte. Und wann er mich bestrafen musste.
Vater hatte mich geliebt.
Und jetzt war er tot.
Tränen begannen hinter meinen Lidern zu brennen. Ich schloss die Augen, biss mir auf die Unterlippe, bis es brannte.
Ich wollte das nicht mehr! Ständig dieses Rumgeheule! Das machte doch alles nur noch schlimmer! Wenn ich die anderen sehen ließ, wie schwach ich war, drückten die mich immer nur noch weiter runter.
Nein, das durfte ich nicht mehr zulassen! Das war schon viel zu oft passiert.
In Zukunft würde ich mich zusammenreißen. Würde gar nichts mehr zeigen. Es einfach an mir abprallen lassen. Keine Gefühle mehr. Noch nicht mal mehr ein Zucken.
Da sollten die anderen sagen, was sie wollten; Missgeburt, Heulsuse oder -
"Vogelscheuche!"
Ich sah auf, erkannte Julia am anderen Ende des Gangs.
"Sag mal, wie siehst du denn aus?" Julia kam auf mich zu, musterte mich dabei eingehend von oben bis unten. Dann lachte sie. "Billiger ging's wohl nicht, meine Fresse!"
"Was willst du von mir?", fragte ich, legte dabei so viel Kälte in meine Stimme, wie ich konnte.
"Ja... Schminktipps vom Babystrich schon mal nicht."
Babystrich, dachte ich, was meinte sie damit?
"Nicht im Ernst jetzt, oder?" Erneut lachte Julia, diesmal noch lauter als vorher, beinahe schrill. "Du hast keine Ahnung, wovon ich rede", spottete sie, als hätte sie meine Gedanken gelesen. "Oh Mann!" Ihr Lachen ging in Husten über. "Du bist ja fast noch so dämlich, wie du hässlich bist!"
"Fick dich!", meinte ich und erstarrte dann gleich. Wo hatte ich das denn jetzt hergekommen?
Auch Julia schien überrascht, fing sich jedoch schnell wieder.
"Jetzt werd mal nicht frech!", sagte sie, machte noch ein paar Schritte auf mich zu, bis wir nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. "Du glaubst wohl, nur weil du hier in diesem Schlampen-Outfit daher kommst, kannst du jetzt das Maul aufreißen!"
Ich senkte den Blick, spürte abermals ein Brennen hinter den Lidern.
"Musst mir hier jetzt gar nichts vorheulen!", höhnte Julia. "Diese Nummer zieht bei mir nicht."
"Ich heule nicht!", erwiderte ich, hob wieder den Blick und sah Julia in die Augen, daraufhin zog diese nur hämisch die Brauen hoch.
"Wäre ja auch schade um die ganze Farbe, die du dir ins Gesicht geklatscht hast", sagte Julia und kratzte mir hart mit dem Zeigefinger über die Wange. "Guck, das kann man sogar richtig abspachteln! Ist ja abartig!" Wieder lachte sie und ich spürte, wie mir die Hitze ins Gesicht stieg.
"Du hattest mir doch selber noch gezeigt, wie man das so macht." Meine Stimme war jetzt nicht mehr als ein Krächzen.
"Ja, super!" Julia verdrehte die Augen. "Hat bei dir aber ja wohl nichts gebracht! Da hätte man auch genauso gut einen Eimer Farbe über einen Kackhaufen auskippen können!"
"Und du meinst, so jemand wie du kann das beurteilen? Ist ja witzig!" Ich wandte überrascht den Blick zur Seite, da kam Leon auf uns zugelaufen, legte erst noch zwei Flaschen Schnaps sowie eine Tüte Käseflips im Einkaufswagen ab und stellte sich dann an meine Seite.
"Natürlich kann ich das beurteilen", antwortete Julia, der Leons unvermitteltes Auftauchen scheinbar erst mal die Sprache verschlagen hatte. "Das sieht doch ein Blinder, wie hässlich die ist", setzte sie dann noch nach und bedachte mich dabei mit einem derart bösen Blick, dass mir im nächsten Moment etwas bitteres im Hals hochstieg.
"Alles klar", meinte Leon und klang dabei schon deutlich verärgert."War's das jetzt? Oder kommt da noch mehr?"
Ich verstand es nicht. Was regte er sich jetzt so auf? Hatte gestern doch selber noch gesagt, dass ich ihm nicht hübsch genug war. Dann brauchte er sich auch nicht wundern, wenn das andere genauso sahen. Und an sich hatte Julia ja auch recht. Zwar mochte Schminke wohl einen Unterschied machen, doch ein Gesicht blieb nun mal ein Gesicht. Und meins war eben hässlich, so wie alles andere an mir. Da gab es nichts schön zu reden. Es war ganz einfach so. Das wusste ich selber noch am besten, war ich doch dazu verdammt, mit dieser Hässlichkeit herumzulaufen. Deswegen schief angeguckt und verspottet zu werden. Und es im Spiegel zu sehen. Jeden gottverdammten Tag, dachte ich und spürte erneut das Brennen unter meinen Lidern. Den Kloß im Hals, welcher nur noch größer zu werden schien mit jedem Mal, wo ich versuchte, ihn herunter zu schlucken. Und die Muskeln in meinem Gesicht, die nun gleichzeitig damit begannen, ein Eigenleben zu führen.
Nein, bitte nicht, dachte ich und vergrub von Neuem die Zähne fest ins Fleisch meiner Unterlippe, konnte die Tränen nun aber nicht mehr zurückhalten.
"Ich weiß gar nicht, was dein Problem ist", meinte Julia. "Ich sag doch nur, was alle denken."
"Wen meinst du mit alle?", fragte Leon und lachte, aber wohl eher nicht, weil er das jetzt gerade so witzig fand. "Laber doch keinen Müll!"
"Es ist doch so!", zischte Julia.
"Musst doch nur mal richtig hingucken, was für eine Vo-"
Ein jähes Geräusch schnitt ihr das Wort ab, wie ein Knall, nicht sehr laut, dafür jedoch unverkennbar.
Ich schlug die Augen auf und wischte mir mit der Hand die Tränen fort, so dass ich wieder richtig sehen konnte.
Vor mir stand Julia und hielt sich die Wange, die Augen vor Schreck weit aufgerissen.
"Sag mal, bist du jetzt komplett bescheuert?"
"Ich kann dir gleich auch noch eine knallen, wenn du es drauf anlegst!", sagte Leon, der sich jetzt hörbar zusammenreißen musste, um nicht zu brüllen.
Julia schüttelte den Kopf, die Augen unverwandt auf Leon gerichtet, während sie mich neben ihm gar nicht mehr wahrzunehmen schien. "Das wagst du nicht!"
"Wollen wir wetten?" Leon erwiderte ihren Blick, angeekelt und von oben herab, als sei sie eine von diesen Kellerasseln, welche er eben beim Anheben der Fußmatte entdeckt hatte. Dann hob er die Hand, schnell, wie um erneut zu zuschlagen.
Julia zuckte zusammen, erwiderte noch einen Moment lang seinen Blick, wie um zu sehen, ob Leon seine Drohnung ernst meinte.
Dann wandte sie sich ab und ging fort, nur bis zum Ende des Gangs, da drehte sie sich noch mal um. Steckte sich die Hand in den Ausschnitt ihres lilafarbenem Pullovers, welchen sie unter einer enggeschnittenen schwarzen Jacke trug, zog ihn dann wieder heraus und zeigte Leon den Mittelfinger.
"Leck mich doch, du verficktes Arsch-"
Leon machte einen Satz in ihre Richtung, da verstummte sie gleich und rannte fort.
"Ja, genau!", meinte Leon und stieß dabei ein verächtliches Lachen aus. "Große Klappe und nichts dahinter!"
Aber es stimmt doch, was sie sagt, dachte ich.
"Und du fängst wegen so ner Scheiße auch noch an zu heulen!"
Jetzt musterte Leon mich, das wusste ich, auch wenn ich es nicht sah.
"Echt mal, das ist doch Kindergarten!"
"Ja... tut mir-"
"Nein, komm! Lass es einfach!", fiel Leon mir ins Wort, kurz darauf seufzte er.
"Ist ja nichts schlimmes, Süße." Jetzt klang er wieder ruhiger. "Komm mal her!" Er zog mich in seine Arme und...
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Vogelscheuche und Gürtelschnalle - Teil 2
Teen FictionEndlich hat Maria es offenbart. Das Geheimnis, welches so lange schon ihr Leben bestimmt. Jetzt ist alles anders. Aber ist es auch besser? *~~•~~* Fortsetzung von: Vogelscheuche und Gürtelschnalle, Teil 1: Offene Wunden *•~~• MARIA •~~•* Ich wollt...