°○ Maria ○°
"Wie lang musst du den Gips jetzt nochmal tragen?"
"Etwa sechs Wochen."
"Bei deiner Nase?"
"Beim Arm auch", antwortete Leon.
"Wow!", meinte ich. "Keine Ahnung, ob ich das könnte."
"Das müsstest du dann wohl", sagte Leon. "Also besser, du brichst dir gar nicht erst was!"
"Ja... da pass ich lieber auf."
Wir liefen Hand in Hand über den Weg, vorbei an einer Allee von Bäumen. Und Gräbern.
Ich erinnerte mich nicht mehr daran, wo jenes von Vater lag, ließ mich stattdessen von Leon führen. Der war bei der Beerdigung damals immerhin dabei gewesen und das wahrscheinlich noch mehr als ich.
"Da hinten müsste es irgendwo sein, oder?", fragte Leon.
Ich zuckte mit den Schultern. "Keine Ahnung."
"Ich weiß es auch nicht mehr genau. Nur, dass das irgendwie abgelegen war."
Wir liefen noch ein Stück.
Es war windig und dazu noch stechend kalt. Ich zog mir die Kapuze über und blies mir warmen Atem in den Kragen.
"Musst du jetzt eigentlich wieder arbeiten, im Tankshop?"
"Noch nicht", antwortete Leon. "Bin sozusagen krank geschrieben."
"Von Richard", meinte ich.
"Er will nicht, dass ich so hinter der Theke stehe, wie ich gerade aussehe", erklärte Leon. "Und die anderen Arbeiten gehen nicht mit dem Gips."
"Und deswegen darfst du dich jetzt ausruhen."
"Mehr oder weniger, ja."
Wir gingen noch ein paar Meter, dann unterbrach ich wieder das Schweigen: "Meinst du, es tut ihm leid?"
Leon antwortete nicht sofort, schien zu überlegen. "Ich glaube nicht", meinte er dann.
"Also wird er es wieder tun?", fragte ich.
"Was meinst du?"
"Dich schlagen."
"Ja..." Erneut geriet Leon ins Stocken. "Das passiert ja öfter."
"Aber doch nicht immer so schlimm. Oder-"
"Nee!" Leon lachte trocken. "Ins Krankenhaus war ich bis jetzt noch nicht gekommen."°○ Leon ○°
Die Grabesstelle war mit einem hölzernen Kreuz versehen, keine Kränze und Blumen lagen mehr dort.
Maria löste sich von mir, kniete sich hin. Legte eine rote Rose auf die Platte. Und verharrte dann so.Bente Rehberg
1971 - 2016
nunc autem manet fides spes caritas tria haec maior autem his est caritas
(1Kor 13, 13)"Was steht da?", fragte ich.
"Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen." Marias Stimme klang nun leise, ganz so, als spräche sie durch ein Kissen.
"Ist das Latein?"
"Ja, genau." Maria räusperte sich verhalten. "Das war-" Sie hustete, räusperte sich dann lauter. "Seine Lieblingssprache."
Natürlich, dachte ich, darauf hätte ich auch wetten können.
"Wir haben früher immer zusammen in der Bibel gelesen, als ich noch klein war."
Als du noch klein warst, wiederholte ich im Stillen, und eigentlich bist du das noch immer, weil Rehberg dir nie wirklich erlaubt hat, groß zu werden.
"Vielleicht hättet ihr auch besser mal ein paar Märchen lesen sollen."
"Das haben wir!", entgegnete Maria. "Wir haben immer viel gelesen."
"Das ist doch schön", sagte ich.
"Und vorher hatte er mich immer gebadet." Maria schniefte. "Und eingecremt, das weiß ich noch."
Ja, überlegte ich, das war vermutlich auch noch keine drei Monate her, dass er das zum letzten Mal mit dir gemacht hatte.
Das und noch mehr.
Ein Schauder des Ekels durchlief mich.
"Ich vermisse ihn."
"Ich weiß, Süße."
"Ohne ihn ist alles so leer. Als ob ich ganz alleine bin, hier."
"Du bist nicht alleine." Ich hockte mich neben meine Freundin ins matschige Gras, legte einen Arm um sie und gab ihr einen Kuss. "Ich bin-"
"Du verstehst das nicht!" Maria fing an zu weinen. "Ich l-l-liebe meinen V-V-Vater! Erisie eineilon-n-n-nir! Under f-f-fehltir so s-s-sehr!"
"Süße-"
"Esut richtig w-w-weh! Sowasapiers-s-su nich!"
"Ich seh aber, was das mit dir macht."
"Ja, schön!"
"Mari-"
"Lass mich!", schrie Maria, als ich sie noch fester in den Arm nehmen wollte. Sie stieß mich von sich, so heftig, dass es mich zu Fall brachte.
Ich kippte seitlich weg, landete mit dem Hintern im Gras und holte mir eine nasse Jeans.
"Hau ab!" Heftiges Schluchzen, das ihren Körper zum Beben brachte. Dazwischen neuerliches Husten. "Ich-ch-ch-chill jetzeinen s-s-sehen!"
"Ist gut." Ich mühte mich wieder auf die Beine. "Dann warte ich vorne auf dich."
Ich lief fort, betastete im Gehen den nassen Fleck an meiner Hose, der fühlte sich unangenehm kalt an.
Verdammt noch mal!
Wer bin ich denn?
Mich einfach so umschubsen zu lassen, als wär ich so ein Baum!
Für was für ne Prinzessin hält die sich? Als ob ich nicht verstehe, wie es ihr gerade geht! Bei mir ist es doch genauso! Halt nur nicht bezogen auf meinen Vater; was aus dem wird, ist mir scheißegal!
Soll er sich die Arme aufschlitzen oder erhängen, liebend gerne wegen mir! Aber so viel Glück hatte ich ja nicht!
Sicher würde ich an Marias Stelle gerade tanzen, vor lauter Freude auf dem Grab. Und ich würde lauthals singen: "Das Schwein ist tot! Das Schwein ist tot!"
Wer würde es mir verübeln?
Wer würde Maria da irgendeinen Vorwurf raus machen?
Dieses Monster hatte sie doch immer nur gequält! Hatte seine ganze Macht ihr gegenüber raushängen lassen und sich dann noch daran aufgegeilt!
Wie Maria wohl immer angekrochen war, sobald er nur mal kurz Luft geholt hatte. Nur um dann wieder mal nur angeranzt zu werden. Oder, ganz im Gegenteil, mit kleinen Gesten der Liebe überhäuft zu werden, wie der Erlaubnis, mal wieder etwas zu essen oder alleine auf Toilette zu gehen. Ganz zu schweigen von diesem perversen Gute-Nacht-Ritual, welches scheinbar neben dem gegenseitigen Begrapschen und allem, was da sonst noch gekommen war, auch aus vorherigem Baden und Eincremen bestanden hatte; und wer weiß, was sonst noch!
Teufel noch mal, das wollte ich mir gar nicht alles vorstellen!
So eine kranke Scheiße! Das hatte wirklich niemand verdient! Und Maria dachte, sie tat es! Sehnte sich sogar noch nach alledem zurück, anstatt es einfach-
"Eddie!" Das Wort fuhr mir unmittelbar heraus, als käme er hier gerade leibhaftig vorbeigelaufen!
Mein guter Kumpel Eddie und ehemals bester Freund.
Hey Bro! Hör mal, ich wäre gerne schon früher gekommen, fuhr ich in Gedanken fort. Bis spätestens einer Stunde nach unserem letzten Gespräch, wenn man es genau nimmt. Dann hätte ich dich sicher davon abhalten können, die Tabletten zu schlucken. Oder dir sonst irgendetwas anzutun.
Dann hätte ich dich retten können, dachte ich, und wenn du mich noch so oft angeblafft hättest, dass ich gehen soll.
Das würdest du jetzt sicher auch, ihr alle, wie ihr da liegt:
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Vogelscheuche und Gürtelschnalle - Teil 2
JugendliteraturEndlich hat Maria es offenbart. Das Geheimnis, welches so lange schon ihr Leben bestimmt. Jetzt ist alles anders. Aber ist es auch besser? *~~•~~* Fortsetzung von: Vogelscheuche und Gürtelschnalle, Teil 1: Offene Wunden *•~~• MARIA •~~•* Ich wollt...