22. Ich weiß, dass er es war

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°○ Maria ○°

PÄDOSCHWEIN!

Nur ein Wort.
Das schlimmste.
Wort.
Ich las es. Schloss die Augen. Las es dann erneut:

PÄDOSCHWEIN!

Wieder und wieder:

PÄDOSCHWEIN!

Als ob das etwas ändern könnte. Als ob das die Buchstaben ausradieren könnte.
"Maria?"
Das Bild vor meinen Augen verschwamm.
"Es tut mir leid."
"War Leon das?", fragte ich erneut, dabei kannte ich die Antwort schon. Wer sollte es sonst gewesen sein?
"Ich wollte dir nicht wehtun." Eddies Hand auf meinem Rücken. "Aber irgendwann musstest du es ja erfahren."
"Was meinst du?"
Ein Kloß in meinem Hals. Ich versuchte ihn hinunter zu schlucken, da wurde er nur noch größer.
"Ich hatte ja auch schon gedacht, du wüsstest es und dass du deswegen mit Leon Schluss gemacht hättest", sprach Eddie weiter, als hätte ich gar nichts gesagt.
"Ich hab nie mit Leon Schluss gemacht! Wer erzählt sowas?"
"Leon hat das gesagt."
"Zu dir?"
"Nein", meinte Eddie. "Ich hab das nur so mitbekommen."
"Wie?"
"Im BEZ. Vor ein paar Tagen... Da hatte ich gehört, wie er mit Manuel telefoniert hat."
"Und da hat Leon gesagt, dass ich mit ihm Schluss gemacht hätte?"
"Ja. Er meinte, du hättest gesagt, dass er sich zu viel in alles einmischen würde."
Der Streit, dachte ich.
"Und da dachte ich halt, das wäre wegen der Sache mit dem Jugendamt, dass Leon deinen Vater bei denen schlecht gemacht hat."
"Das hat er doch gar nicht!"
"Und was ist das dann?" Eddie nickte zum Handy.
"Leon hat überhaupt nichts zum Jugendamt gesagt!"
"Ja, aber-"
"Ich bin das gewesen", schluchzte ich.
"Du?", fragte Eddie.
"Ja... ich hab das alles erzählt." Ich schniefte. "Und deswegen hat das Jugendamt mich meinem Vater weggenommen. Und dann hat er sich umgebracht."
Eddie nahm mich in den Arm. Und begann mir dann wieder über den Rücken zu streicheln.
"Soll ich dich nach Hause bringen?"
Ich antwortete nicht.
Zuhause, dachte ich. Wo sollte das denn sein?
"Oder sollen wir uns mal irgendwo hinsetzen?", fragte Eddie weiter.
"Ich will jetzt nicht sitzen", sagte ich.
"Okay... Willst du sonst et-"
"Nein!"
"Okay..."
"Kannst du mich nicht einfach nur festhalten, bitte?"
"Klar."
"Ich kann das gerade nicht." Ich schniefte wieder. "Tut mir leid."
"Ist doch gut", meinte Eddie und danach sagte erst mal keiner von uns mehr was.
Was sollte ich auch sagen? Wie sollte Eddie das alles verstehen?
Meine Eltern waren tot. Und ich war schuld daran.
Wegen mir hatte meine Mutter sich damals den Hals gebrochen. Und mein Vater hatte sich umgebracht.
Wegen mir!
Ich hatte alles kaputt gemacht! Immer schon von Anfang an!
Ich war diejenige, die störte! Die einfach nirgendwo reinpasste! Weder in meiner Familie, noch in der Klasse, noch sonst irgendwo.
Da stand ich dann immer, alleine für mich, fühlte mich wie das letzte Stück Scheiße und wünschte, ich wäre weg. Nicht tot. Nur weg.
Ich wollte nicht sterben, davor hatte ich Angst. Ich wollte nur weg sein. Im Nichts verschwinden. Wo ich niemanden mehr sehen, wo ich nichts mehr hören musste.
Keine Schmerzen.
Einfach gar nichts mehr.
Das wünschte ich mir.
"Mir tut das leid mit deinem Vater", meinte Eddie.
"Danke", sagte ich.
"Ich hatte das schon in der Zeitung gelesen... also die Todesanzeige."
"Was für eine Todesanzeige?"
"Die von der Schule."
"Achso", sagte ich. "Da hab ich gar nichts von mitbekommen."
"Ich kann sie dir ja mal zeigen, wenn du willst."
"Ja... das wäre nett."
Wir schwiegen wieder einen Moment.
"Wie hast du das denn jetzt gemeint, dass du dem Jugendamt das alles erzählt hast?", fragte Eddie dann, löste seine Umarmung und musterte mich."Was hast du gesagt?"
Ich senkte den Blick, biss mir auf die Unterlippe, so fest, bis es brannte.
Eddies kalte Finger an meinen Wangen, er wischte mir die Tränen weg. "So schlimm?"
Ich nickte.
"Also willst du nicht darüber reden?"
"Ich weiß nicht, ob ich das kann."
"Du kannst mir alles sagen."
"Nicht alles", meinte ich und schauderte, als ein kalter Windstoß mich erfasste. Eddie nahm meine Hände in seine. Hob sie an seinen Mund und küsste sie.
"Es hat etwas damit zu tun, was Leon mit dem Auto gemacht hat. Oder?" Er sah mich an, da wich ich ihm wieder aus. Spürte neue Tränen in meine Augen steigen, wie viele davon würden wohl noch kommen, bis ich endlich damit durch war? Dieser ganze Druck, wie ein Schraubstock und meinen Hals.
Ich schluckte wieder. Zwinkerte, um das Weinen zurück zu drängen, wenigstens für den Moment. Doch es klappte nicht.
"Also... hat dein Vater... dir wehgetan?", fragte Eddie.
"Ja... wenn ich mich nicht benommen hab... dann ist er immer böse geworden mit mir", sagte ich.
Das schien Eddie als Antwort zu genügen, oder wenigstens fragte er nicht weiter, nahm mich dafür erneut in den Arm, nun noch fester als vorher und gab mir einen sanften Kuss in die Halsbeuge.
"Das tut mir leid, das... hätte ich nicht gedacht."
"Ich hatte das ja auch keinem erzählt... bis letztens."
"Und da hast du es Leon erzählt."
"Nein... also, ich meine... der hatte das vorher schon rausgefunden. Und dann ist er damit zu Niko gegangen. Das ist ein Sozialarbeiter."
"Wie jetzt?"
"Ja, der betreut Mehmet. Und der hat mir dann so Fragen gestellt."
"Was für Fragen denn?"
"Ich weiß nicht mehr genau... halt so, wie Vater und ich uns so verstehen."
"Und was hast du da gesagt?"
"Ja... das Vater lieb mit mir ist, a-aber... Dass er auch schnell böse wird, w-wenn ich mich nicht benehme", antwortete ich. "S-so wie an dem Tag vorher, da... h-hatte Vater s-sich auch richtig a-aufgeregt, als er das r-rausbekommen hatte mit Leon und mir."
Neue Tränen. Unaufhaltsam, wie die Erinnerung an den kalten Vormittag am vierundzwanzigsten Dezember mit grauen Himmel und Schneematsch auf den Straßen. Der Moment, als ich aus dem Haus geeilt war, um Leon noch sein Geschenk zu geben, einfach, weil ich dumme Kuh nicht eher daran gedacht hatte.
Der Schlüsselanhänger mit der Freddy Krüger-Puppe in Leons Hand.
Das verspielte Grinsen in seinem Gesicht, als er mir dann kurz darauf sein Geschenk gegeben hatte.
Die feine Kette aus Silber mit dem Herz daran.
Wie sehr ich mich darüber gefreut hatte, so sehr, dass ich Leon um den Hals gefallen war, um sein Gesicht mit Küssen zu bedecken.
Keine zwei Wochen war das her. Mir kam es vor, wie ein ganzes Leben.
"Das war das letzte, worüber Vater und ich uns gestritten hatten. Und überhaupt" Ich schluckte. "Das letzte Mal, wo wir geredet hatten."
"Also seid ihr im Streit auseinander gegangen?" Eddie suchte meinen Blick.
Ich wich ihm aus.
Nickte. "Vater hatte durchs Fenster gesehen, wie Leon und ich uns küssen."
"Und was hat er da gesagt?"
"Dass Leon kein Umgang für mich ist und... dass ich aufpassen soll, wie ich mich vor anderen Leute zeige, weil wir uns ja auch noch mitten auf der Straße geküsst hatten."
"Damit hatte er doch recht. Ich meine... Dass Leon kein guter Umgang ist."
"Das kann man leicht denken, wenn man ihn nicht so gut kennt", sagte ich und schniefte. "Ich meine... klar, Leon ist kein Engel, das weiß ich, aber... er ist jetzt auch nicht so schlecht, wie viele meinen."
"Und was soll das hier dann sein?" Eddie hielt mir wieder das Foto hin.
Ich betrachtete es erneut, dann blickte ich zurück zu ihm. "Das hätte er nicht tun dürfen."
"Dafür kann die Polizei ihn dran kriegen", sagte Eddie. "Von wegen Pädoschwein! Das ist Rufmord!"
Ich schwieg.
"Da müsste ich jetzt ja nur mal einen Anruf machen, dann sitzt Leon in der Scheiße."
"Hast du denn überhaupt gesehen, wie er das Auto kaputt gemacht hat?", fragte ich.
"Ich weiß, dass er es war", meinte Eddie daraufhin nur. "Und du weißt es auch."
Er sah mich an.
Ich senkte den Blick. Dann nickte ich.

Vogelscheuche und Gürtelschnalle - Teil 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt