Von Herzensträumen und sozialer Interaktion

30 2 0
                                    

Ich war so entspannt. Ich hatte fast eine Stunde länger geschlafen als sonst, hatte meine Haare gemacht und mich geschminkt und war jetzt sogar immer noch dreißig Minuten früher als nötig in der Schule und konnte schon einmal die Lektüre weiterlesen. So organisiert war ich selten. Zum Glück waren die ersten zwei Stunden ausgefallen. Mein Biologielehrer war auf einer Exkursion und hatte uns von zwei der drei schlimmsten Stunden der Woche befreit. Das nenne ich doch einmal einen guten Start in den Tag. Der erste Weg führte mich zum Musikerbrett. Mein Herz begann immer schneller zu schlagen, je mehr ich mich näherte. Ich vergaß alles um mich herum, aber das war nicht wirklich schwierig, ich war so ziemlich die einzige, die zu dieser Zeit frei hatte und trotzdem in der Schule war. Mit zitternden Fingern suchte ich die Liste ab und tatsächlich - da war mein Name. Ganz unten, als allerletzte und nur irgendwie mit Kugelschreiber hingeschmiert, aber das war mein Name. Emilia Ahrens. Ich war dabei. Also beim Casting. Aber immerhin. Ich war einen ganz großen Schritt näher an meinem Ziel. Mir entfuhr ein lautes „Ja!" Und ich war froh, dass niemand da war, der mich hören konnte. Freudig suchte ich das Brett nach der Information ab, was beim Casting überhaupt gefragt war. Dabei stolperte ich über einen weiteren Namen. Ben. Ben Lindner. Ich schluckte. Mein Blick wanderte nach oben. Das einzige, was mein Gehirn aufnehmen konnte, war das Wort „Prinz". Ich stellte mir vor, wie wir gemeinsam auf der Bühne stehen würden, ein Duett singen und zum Schluss würde er mich küssen. Ich seufzte. Jetzt musste ich nur noch beim Casting überzeugen. In mir bildete sich ein immer stärker werdendes Gefühl der Spannung. Aber positiv. Ich wollte diese Rolle. Mehr als alles andere. Ab jetzt würde ich jede freie Minute damit verbringen, für das Casting zu proben. Apropos, schnell fand ich die Vorgaben. Es war relativ anspruchsvoll, aber auch nicht zu schwierig, schließlich handelte es sich nur um eine Schulaufführung. Das Vorsprechen bestand aus drei Teilen: Tanzen, Spielen und Singen.

Der Tanzpart bestand nicht wirklich aus tanzen, sondern sollte wohl eher die allgemeine Fitness überprüfen und auf jeden Fall schon einmal die absolut unpassenden aussortieren. Scheinbar würde dieser Teil als „Gruppentanzkurs" in der Aula stattfinden, in dem alle Bewerberinnen zusammen ein paar kurze Choreographien erlernten und die zuständigen Lehrer währenddessen grob selektierten in „potentielle Cinderella" und „absolut hoffnungsloser Fall aka Chor". Dank meines jahrelangen Ballettunterrichts machte ich mir in dieser Hinsicht relativ wenige Sorgen, beim nächsten Teil musste ich schon eher schlucken. Schauspielern. Mir war schon klar, dass das den größten Teil meiner Rolle ausmachen würde, aber ich hatte so etwas einfach noch nie wirklich gemacht, einen Schauspielverein gab es hier in unserer Stadt nicht. Das würde ich mir also so irgendwie beibringen müssen. Vielleicht konnte mir ja Alyssa dabei helfen. Und das schlimmste kommt zum Schluss. Nun ja, ob es das Schlimmste oder das Beste ist, da war ich mir nicht so ganz sicher, denn einerseits liebte ich das Singen über alles und würde am liebsten nie wieder etwas anderes machen, aber andererseits hatte ich auch einen riesigen Bammel vor diesem Vorsprechen. Ich hatte noch nie vor Publikum gesungen, noch nicht einmal vor meiner Mutter und die sang ständig vor mir. Eigentlich musste mir da wirklich nichts peinlich sein, aber irgendwie hatte ich da so eine Blockade, die ich einfach nicht los wurde. Immer, wenn ich vor anderen singen sollte, versagte einfach meine Stimme und das wars. Was wäre, wenn mir das beim Casting passierte? Was dann? Ich war sowieso nur noch gerade so auf die Liste gerutscht, was wäre, wenn ich trotzdem versagen würde? Ich musste das schaffen. Aber mal angenommen, ich würde diese Rolle bekommen. Dann müsste ich vor noch viel mehr Leuten singen als nur den zwei oder drei Lehrern, die das Vorsprechen abhalten. Was, wenn mir auf der Bühne einfach die Stimme versagte? Wie peinlich wäre das denn? Außerdem würde ich dann die ganze Produktion zerstören und so alles kaputt machen, wofür so viel und lang geschuftet wurde. Nein. Ich sollte es lassen. Bevor ich mich umdrehte, warf ich einen letzten Blick auf den Zettel.

„A dream is a wish your heart makes". Na klar hieß der Song so. Warum sollte der auch nicht absolut perfekt auf meine Situation passen? Das war ja wie in einem schlechten Film. Aber das mit dem „Dream come true" hatte sich jetzt erledigt. Ich wollte auch gerade gehen, als ich jemand meinen Namen rufen hörte. „Emilia!" Ich schaute mich um und konnte erst keinen entdecken, sah dann aber Herr Visnes Kopf hinter der Tür zu seinem Kunstsaal hervorlugen. Wie lange er mich wohl schon beobachtet hatte. Er winkte mich zu sich. Schon bevor ich bei ihm angekommen war, begann ich zu reden: „Herr Visnes, vielen Dank für ihre Mühen, aber ich werde nicht am Casting teilnehmen." Zwischen seine Augenbrauen grub sich eine tiefe Furche. „Was soll das heißen, du wirst nicht teilnehmen?", fragte er mit gerunzelter Stirn. „Naja, genau das, was ich gesagt habe. Ich werde nicht hingehen.", antwortete ich schlicht und einfach und zuckte mit den Schultern. Plötzlich spürte ich, wie mich eine Welle der Traurigkeit überschwappte. Ich bemerkte, wie er mit sich rang. Ich glaube, er wollte mich gerne an den Schultern packen und einmal kräftig durchschütteln, aber er traute sich nicht, mich noch einmal anzufassen. Während wir uns so anstarrten, presste ich meine Lippen aufeinander und versuchte so, meine Emotionen zurückzuhalten. Er trat kurz einen Schritt zurück und schaute auf die Uhr an der hinteren Seite seines Klassenzimmers, obwohl er eine Armbanduhr trug. „Also Emilia, ich habe jetzt gleich Unterricht und du denke ich auch, aber ich würde gerne heute nach der letzten Stunde mit dir reden. Kommst du dann zu mir?" Es klang weniger wie die Anweisung eines Lehrers als eine wirkliche Bitte. „Ähm ja, ich denke schon.", antwortete ich etwas verwirrt und kratzte mich an der Stirn. Er fuhr sich durch seine hellblonden, ziemlich langen Haare und meinte dann „Gut, äh, bis dann Emilia - Lia - Emilia. Und noch einen äh...schönen Tag." Es war offensichtlich, dass ihn seine innere Stimme für diese super seltsame Verabschiedung gerade schalt, während er mir die Tür vor der Nase zumachte, aber ich fand es irgendwie süß. Beruhigend, dass ich nicht die einzige war, die sich bei sozialer Interaktion manchmal ziemlich ungeschickt anstellte.

all eyes on meWo Geschichten leben. Entdecke jetzt