Von lügenden Spiegeln und Wahrheitsgehalten

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Ich schreckte hoch. Wo war ich? Und wieso tat mir mein ganzer Körper so unfassbar weh? Vorsichtig, um meinen sowieso schon lädierten Körper nicht noch weiter zu beschädigen, schaute ich mich um. Ich lag auf einem pinken oder roten Sessel soweit ich es erkennen konnte, er war nämlich voll mit irgendwelche Kleidern und Jacken und Hosen und außerdem war es auch sonst ziemlich dunkel, vor den Fenster waren zweireihige Kleiderständer mit sicher dreihundert Kilo Klamotten daran. Ich war im Fundus! Wieso? Und vor allem - wie spät war es? Meine Augen waren immer noch mit Schlaf verklebt, aber ich rappelte mich auf und suchte nach meinem Handy. Meine Jacke war nicht da! Plötzlich fiel mir mein gestriges Gespräch mit Herr Visnes wieder ein. Und dass alle meine Sachen noch in seinem Kunstraum lagen. Ein lautes „Scheiße!" entfuhr mir, ich ließ mich zurück in den Sessel fallen und vergrub mein Gesicht in den Händen. Was sollte ich denn jetzt bitte tun? In meinem Kopf ging es ähnlich zu wie in den letzten Tagen vorm Musikerbrett. Ich fühlte die Tränen schon wieder aufsteigen aber dafür hatte ich jetzt wirklich keine Zeit. Apropos Zeit - wie spät war es eigentlich? Hier drin musste es doch so etwas wie eine Uhr geben! Panisch wühlte ich mich durch Hosen, Taschen, Accessoires. Bevor ich aber etwas finden konnte, nahm mir die Klingel die Suche ab. Es war also entweder kurz vor oder schon halb acht! Oh man, was hatten wir denn in der ersten Stunde? Ich hätte ja einfach auf den Stundenplan schauen können aber der war wo? Genau- in Herr Visnes Klassenzimmer. Zum Glück konnte ich mich dunkel daran erinnern, dass wir irgendetwas in unserem Klassenzimmer hatten, Englisch oder Mathe oder sowas. Aber wie sollte ich mich so bitte der Öffentlichkeit präsentieren? Ich hatte das gleiche an wie gestern, war ungeduscht und eine Zahnbürste hätte mir auch nicht geschadet. Ganz zu schweigen von meinem Gesicht, das ganz wund war vom Weinen. Wenigstens hatte ich ein bisschen Auswahl, um alle diese Problemzonen vorerst zu verstecken. Schnell wickelte ich mir irgendein Tuch um den Hals, zog einen langen Mantel an und setzte eine riesige schwarze Sonnenbrille auf. Beim letzten Kontrollblick in einen halbverdeckten Spiegel sah das doch ganz passabel aus. Im Dunkeln. Ich öffnete die Tür einen Spalt und lugte hinaus. Es war niemand auf den Gängen, sprach also dafür, dass der Unterricht schon begonnen hatte. Na super. Wenigstens sah mich so dann niemand. Ich schlüpfte auf den Gang, schloss die Tür leise hinter mir und tapste auf Zehenspitzen zu unserem Klassenzimmer. In der Spiegelung einer Glastür erhaschte ich einen Blick auf das ganze Ausmaß meines Outfits - ein roter Trenchcoat mit blau-gelb kariertem Tuch und eine lila Sonnenbrille. Naja, im Dunkeln sehen wohl viele Dinge schwarz aus. Aber das war mir jetzt egal, ich hatte einen Plan. Vor unserem Klassenzimmer für Hauptfächer angekommen nahm ich meinen ganzen kläglichen Mut zusammen, klopfte an die Tür und steckte meinen Kopf hinein. Meine Stimme musste ich gar nicht verstellen, die war vom Weinen und der schlechten Luft im Fundus kratzig genug. „Good morning, I'm very sorry I'm late, but I don't feel well. Would it be possible to take someone with me and go to the sickroom?", jammerte ich, dann noch ein kleines Hüsteln hinterher und mein Auftritt war perfekt. „Guten Morgen Emilia, jetzt nimmst du erstmal die Brille ab und setzt dich an deinen Platz, dann können wir weiterreden.", wies mich meine Mathelehrerin zurecht. Mist, also doch kein Englisch. Und unsere Mathelehrerin war da leider auch nicht so locker. Niedergeschlagen nahm ich die Brille ab und präsentierte meiner gesamten Klasse mein geschwollenes Gesicht mit verschmierter Wimperntusche. „Weißt du was, nimm doch Alyssa mit und leg dich kurz hin. Gute Besserung.", lenkte meine Lehrerin ein, sobald sie mein Gesicht sah. Na danke auch. Ich weiß selber, dass ich beschissen aussehe, aber dass es so schlimm war hätte ich jetzt auch nicht gedacht. Alyssa sprang sofort auf und eilte zu mir. Als die Tür hinter uns ins Schloss fiel, fing sie erst einmal zu lachen an und sie kriegte sich gar nicht mehr ein. „Okay ich hab's schon verstanden, ist schon okay, ich weiß, dass das nicht zusammenpasst, das musst du mir nicht sagen.", meinte ich genervt und verschränkte meine Arme. Als sie aber immer noch nicht aufhörte zu lachen, lief ich einfach schon einmal voraus Richtung Fundus, sie würde dann schon nachkommen.

„Hey Lia, warte, das war doch nicht so gemeint, bitte sei nicht sauer auf mich. Aber du musst schon zugeben, dass das echt furchtbar ist!" Bevor sie wieder in Gelächter ausbrechen konnte, gab ich ihr ganz patzig zurück: „Ja danke auch, auf so eine Hilfe kann ich verzichten, kannst gleich wieder zu Mathe zurückgehen!" Daraufhin verstummte sie und beschleunigte ihr Tempo, um mich einzuholen. „Jetzt erzähl erstmal, was ist denn überhaupt passiert, dass das hier passieren musste?", fragte sie nach und wies mit ihrem Finger auf mein Ensemble aus Scheußlichkeiten. Ich gab ihr keine Antwort, sondern riss erst einmal die Tür zum Fundus auf. „Hast du einen Kaugummi?", wollte ich wissen und wortlos reichte sie mir einen aus ihrer Tasche. Ich hatte darauf gehofft, dass sie die mitnahm, denn sie hatte stets ihr Schminktäschchen darin und darauf war ich gerade mehr als angewiesen. Sie schloss die Tür und wir standen uns schweigend gegenüber. „Tut mir leid, ich wollte dich nicht so blöd anmachen, du kannst ja gar nichts dafür, das hast du wirklich nicht verdient." Was war ich eigentlich für eine blöde Kuh. Pampte morgens als erstes gleich meine beste Freundin an, die doch keine Ahnung hatte, worum es eigentlich ging. „Ist schon gut, mir gehts doch auch manchmal so.", erwiderte sie und nahm meine Hand. „Alles wieder gut?", fragte Alyssa und ich antwortete: „Alles wieder gut."

„Also, dann machen wir dich doch mal wieder vorzeigbar!", rief Aly fast etwas zu motiviert und rieb ihre Hände aneinander. Ich musste grinsen. „Du bist die Beste!" Was würd ich nur ohne sie tun. In Windeseile hatte sie mich abgeschminkt, neues Makeup aufgetragen und mir Deo und ein Wasser hingeworfen. „Du bist sicher total dehydriert, trink was, dann bist du gleich viel frischer.", meinte sie, während sie mit dem Rücken zu mir sämtliche Kleiderstangen durchging und mir ein Outfit zusammenstellte, das Heidi Klum so nicht hinbekommen hätte. Praktisch, mit dem Modeguru der Schule befreundet zu sein. „Wahnsinn bist du, einfach der Wahnsinn!", lobte ich sie und drehte mich vor dem Spiegel. Dieses Mal wusste ich aber, aber dass das gut aussah und ich musste mich nicht auf dieses lügende Stück Glas verlassen. Überraschenderweise fühlte ich mich gut, was so ein paar Klamotten und Schminke doch ausmachen konnten. Ich drückte Aly lange und fest und fast wären mir wieder die Tränen kommen, aber ich wollte das Kunstwerk in meinem Gesicht nicht zerstören. Sie hatte mich die ganze Zeit nicht mehr gefragt, was denn jetzt passiert sei, aber ich wusste, dass ich es ihr früher oder später erzählen müsste, davor graute mir schon. Schließlich hatte ich sie angelogen. Es tat mir so unglaublich leid. Ich wollte schon ansetzen mit meinem Geständnis, da unterbrach sie mich und meinte: „Ich glaube, wir sollten jetzt mal zurück in den Unterricht, wo ist denn dein Zeug?" Sämtliches Blut in meinem Körper schoss in mein Gesicht und ich hoffte, sie hatte mir ein gutes Deo gegeben, denn das wurde jetzt schon auf die Probe gestellt. Ich musste mir schnell irgendwas einfallen lassen. „Ich ... ich hab meine Schultasche gestern ähm vergessen! Und deshalb bin ich heute ohne gekommen, aber ich weiß auch nicht mehr wo ich die hingestellt habe, also muss ich die nachher dann suchen wenn die Schule vorbei ist.", sagte ich, aber ich konnte sie dabei nicht anschauen, stattdessen starrte ich auf die dunkelbraunen Wildlederstiefel, die sie mir angezogen hatte und knetete meine Hände. „Aha", meinte sie. Ich wusste genau, wie sie gerade schaute. Und ich wusste auch, dass sie wusste, dass das gerade nicht die Wahrheit war. Wieso log ich sie überhaupt schon wieder an? Ich sollte jetzt einfach die Wahrheit sagen. Sie seufzte. "Lia, ich weiß nicht, was das soll und wieso du dich zur Zeit so komisch benimmst, aber du wirst sicher deine Gründe haben und du wirst mich dann schon aufklären, wenn es so weit ist, aber du sollst nur wissen, dass das nicht einfach für mich ist. Ich bin so neugierig, aber ich werde dich nicht fragen, erzähl es mir einfach, wenn du so weit bist, okay? Aber lüg mich bitte nicht mehr an, sag, dass du nicht darüber reden willst oder kannst oder was auch immer, aber bitte lüg mich nicht an. Du weißt, dass du mir alles erzählen kannst." Mit diesen Worten drückte sie meine Hand, öffnete die Tür und ließ mich alleine im Fundus zurück. Womit hatte ich sie verdient? Woher nahm sie diese Geduld und wie konnte sie so wunderbar sein? Wie? Wie konnte ein Mensch so verständnisvoll und nachsichtig sein, obwohl ich ihr ins Gesicht gelogen hatte? Naja, genau genommen nicht ins Gesicht, sondern auf die dunkelbraunen Wildlederstiefel, aber das änderte nichts am Wahrheitsgehalt meiner Aussage. Mir stiegen schon wieder die Tränen in die Augen, aber ich schluckte sie hinunter. Wieso heulte ich zur Zeit nur so viel? Ein letztes Mal atmete ich tief durch und lief ihr dann hinterher. Bevor wir wieder zurück ins Klassenzimmer traten, drückte sie noch einmal meine Hand und lächelte mich aufmunternd an „Bereit?", fragte sie. „Bereit.", antwortete ich.

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