Sobald die Tür hinter mir ins Schloss gefallen war, begann die ganze Spannung, die sich in den letzten Minuten in mir aufgebaut hatte, abzufallen. Ich musste mich an der Wand abstützen, um nicht umzufallen. Ich hätte niemals gedacht, dass ein Gespräch einen so auslaugen konnte. Nach einigen tiefen Luftzügen hob ich den Kopf wieder und schaute mich um. Zum Glück waren nur noch wenige Schüler unterwegs und es schien nicht so, als hätte mich jemand beobachtet. Und selbst wenn - ich durfte doch wohl mit meinem Lehrer reden! Wenn auch vielleicht nicht auf diese Art und Weise.
Ich ließ meinen Kopf wieder nach unten sinken. „Lia!" Als ich meinen Namen hörte, schnellte ich sofort wieder hoch und schaute in die Richtung, aus der die Stimme kam. Aly kam lächelnd auf mich zu, wurde aber immer ernster, je näher sie mir kam. „Was ist denn mit dir passiert?" „Ach nichts.", wehrte ich ab. „Ich hab dich aus der Ferne aus dem Klassenzimmer kommen sehen. Was machst du denn beim Visnes?", fragte sie wiederum eindringlicher und ich wiederholte nur: „Ach nichts." Jetzt gerade war wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber zu sprechen. Schließlich traf ich mich doch gleich mit Ben.
Als hätte sie meine Gedanken gelesen zog Aly mich hinter sich her auf die Mädchentoilette, holte ihr Schminktäschchen heraus und begann, mich mit einem Kamm zu bearbeiten. Mit diesem Vogelnest kann ich dich doch nicht auf Ben loslassen!", tadelte sie mich. Schon praktisch, immer die eigene Stylistin dabeizuhaben.
„So, und jetzt ab mit dir. Du willst doch nicht zu spät kommen, oder?", grinste sie. Aly war echt die Beste. Was würde ich nur ohne sie tun. Wir drückten uns. Ich wollte sie gar nicht mehr loslassen, schließlich wusste ich, dass sie etwas auf dem Herzen hatte. „Und du?", fragte ich, nachdem wir uns wieder aus diesem menschlichen Knoten befreit hatten. „Mir fällt schon was ein.", sagte sie tapfer und zuckte mit den Schultern.
Ich streichelte noch ein letztes Mal über ihren Oberarm und verabschiedete mich mit einem mitleidigen Lächeln.
Mir fiel auf, dass Ben und ich gar keinen genauen Treffpunkt ausgemacht hatten. Ich überlegte, wie ich ihn finden sollte, doch dieses Problem wurde mir bei einem Blick in die Aula abgenommen: er saß bei seinen Freunden. Das war auch sein gutes Recht, aber mir wäre es lieber gewesen, wir hätten uns woanders getroffen. Ich schluckte. Was sollte ich jetzt tun? Einfach hier warten, bis er mich sah und von selbst herkam? Hingehen und ihn holen? Nein, das kam nicht in Frage. Mich verstecken und ihm schreiben, dass ich vor einem der Musiksäle auf ihn wartete? Das hörte sich nach einer superguten Lösung an. Ich war schon dabei mich umzudrehen, da sah ich einen seiner Kumpels winken.
Mist. Ich biss mir auf die Lippe und zwang mir ein Lächeln ins Gesicht. Jetzt hieß es wohl Augen zu und durch. Oder vielleicht doch besser Augen auf, sonst war die Wahrscheinlichkeit noch höher, dass ich mich blamierte als sowieso schon.
Zögernd lief ich auf die Reichen und Schönen zu, nebenbei flüsterte mir mein Gehirn sämtliche Dinge ein, über die man unsicher sein konnte. Bestimmt knickten meine Knie schon wieder komisch ab.
„Hey!", krächzte ich, als ich angekommen war und machte etwas, das eine Winkbewegung sein sollte, mit meinem linken Arm. In einem vielfachen Chor wurde ich willkommen geheißen und mir wurde ein Stuhl angeboten. Ben sprang sofort auf und wehrte sämtliche Sitzplatzangebote vehement ab. „Später.", sagte er nur zu seinen Freunden und gab mir zu verstehen, dass wir jetzt gehen sollten. Ich lächelte noch einmal kurz in die Runde und folgte ihm dann. Einerseits war ich sehr froh, dass ich nicht noch länger dort bleiben musste, auch wenn die sicher alle sehr nett waren, hatte ich für heute genug anstrengende Gespräche gehabt. Andererseits war ich auch ein bisschen verwundert, dass er mich scheinbar von ihnen fernhalten wollte, sonst hatte er doch auch kein Problem, sich mit mir in der Öffentlichkeit zu zeigen.
Bevor ich meinen Gedanken zu Ende führen konnte, klimperte Ben triumphierend mit einem Schlüssel vor meiner Nase herum. Ich schaute ihn an und er grinste breit.
Flink sperrte er auf und setzte sich prompt an den großen Konzertflügel.
„Du kannst Klavier spielen?", fragte ich erstaunt. „Ja klar, was denkst du denn?", entgegnete er stolz, senkte seine Finger auf die Tasten und eine fürchterliche Kakophonie setzte ein. Ich hielt mir die Ohren zu und lachte. So ein Idiot.
„Aber ich habe gehört du kannst das!", teilte er mir mit und kam auf mich zu. „Ein bisschen vielleicht,", gab ich verlegen zu, „aber ich hatte schon lange keinen Unterricht mehr." „Das ist kein Problem für mich.", sagte Ben gönnerisch. Ich verdrehte die Augen und grinste. „Spiel mir was vor! Bitte!", bettelte er und zog das letzte i ganz lang. Ich schmunzelte, lehnte aber ab. „Ach, bitte! Ich würde so gerne was hören!", jammerte er wie ein kleines Kind, das keine Süßigkeiten mehr bekam. Als ich das zweite mal verneinte, kam er kurzerhand auf mich zu, fasste mich an der Taille und setzte mich auf den Klavierhocker.
Ich protestierte lautstark, musste aber nebenbei so lachen, dass meine Beschwerden relativ wirkungslos waren.
Ich fühlte seine starken Hände, die gestern noch so weich und sanft gewesen waren und fragte mich, ob er mich auch so packen konnte, wie es Herr Visnes vorhin getan hatte. Ganz ohne seine Hände.
Da war er schon wieder. Meine Aussage von vorhin stimmte. Ich bekam ihn nicht mehr aus meinem Kopf. Nicht einmal, wenn ich mit jedermanns absoluten Traummann - meinem Traummann - Zeit verbrachte.
Schnell kniff ich meine Augen zusammen und schüttelte den Gedanken aus meinem Kopf. „Wollen wir anfangen?", fragte ich, bevor Ben mir irgendeine Frage zu meinem seltsamen Verhalten stellen konnte. „Äh, klar!", stimmte er zu und kratzte sich am Kopf. „Heute müssen wir aber wirklich mal mit dem musikalischen Teil anfangen, das kann ich noch gar nicht. Und wir haben echt nicht mehr viel Zeit.", drängte er. Etwas in mir versteifte sich. Gerade noch war ich so locker gewesen, aber beim Gedanken, jetzt vor ihm singen zu müssen, schnürte sich mir die Kehle zu. Aber er hatte recht, ich konnte schlecht Nein sagen. Deshalb nickte ich nur und holte schnell die Noten.
„Erst du.", presste ich hervor und er meinte nur: „Klar, das beste kommt zum Schluss!", gepaart mit einem charmanten Lächeln. Zumindest sollte es nett gemeint sein und als Kompliment, aber ich konnte gerade nicht souverän darauf reagieren. Naja, eigentlich konnte ich nie souverän auf irgendwas reagieren, aber jetzt gerade in dieser Situation besonders wenig.
Ich lächelte gequält und klammerte mich mit beiden Händen am Hocker fest. Mit dem Klavier vorspielen mochte ich auch nicht besonders, aber das hatte ich wenigstens schon öfters gemacht, damals als kleines Kind in der Musikschule, aber ich hatte noch nie wirklich vor jemandem gesungen. Und heute war es scheinbar so weit. Das erste Mal. Mit meinem Schwarm. Das konnte man natürlich auch anders verstehen, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich davor noch aufgeregter sein könnte.
Er schaute mich erwartungsvoll an, aber ich starrte nur auf die Noten vor mir. „Lia, alles okay?", fragte er besorgt und ließ seine Zettel wieder sinken. Ich presste meine Zähne aufeinander, um die Tränen zurückzuhalten. „Hey, es ist alles okay. Du kannst mit mir darüber reden. Natürlich nur, wenn du das möchtest. Wir können aber auch einfach eine Zeit nichts sagen.", bot er an und kam einen Schritt auf mich zu. Ich sah ihm an, dass er nicht recht wusste, wohin mit sich, aber dann legte er kurzerhand seine Noten zur Seite, löste meine Hand vom Hocker und quetschte sich neben mich auf die schmale Sitzfläche. Unsere Beine berührten sich und die Wärme beruhigte mich. Ich schaute ihn an und er mich. Wir waren uns ganz nah. Ich traute mich kaum zu atmen. Was, wenn ich jetzt etwas falsch machte?
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all eyes on me
ChickLitEmilia hat tierische Angst davor, vor anderen Leuten zu singen. Trotzdem spricht sie für ein Musical an ihrer Schule vor, schließlich möchte sie neben ihrem Schwarm Ben die Hauptrolle spielen. Ihr Kunstlehrer hilft ihr, ihre Angst zu überwinden, do...