Plötzlich fiel mir wieder ein, was am Freitag eigentlich passiert war. Ich wusste noch nicht einmal, was er mitbekommen hatte. Wie lange war er schon in der Toilette gestanden und hatte gewartet? Hatte er mitbekommen, dass ich mich übergeben habe? Hat er mein furchtbar hässliches Heulen mit angehört? Und dann sind wir zusammen am Boden gesessen. Und danach...
Wir standen vor seiner Tür, er holte den Schlüssel heraus und sperrte auf. Seine Hände zitterten. Dann hatte er es geschafft und öffnete die Tür mit einem Schwung. „Bitte sehr, Mylady.", witzelte er und machte eine übertrieben ernste Miene. Er versuchte seine Unsicherheit mit Scherzen zu überspielen. Süß.
Ich stieg mit ein und knickste. „Vielen Dank, werter Herr!", sagte ich und schritt mit einem Kichern an ihm vorbei. Ich hörte, wie er ausatmete und die Tür hinter uns schloss. Der Sessel wurde mittlerweile schon gar nicht mehr weggeräumt, sondern er hatte scheinbar jetzt einen festen Platz in einer Wandnische zwischen zwei Schränken. Vielleicht war ich aber auch einfach nicht die einzige, für die er manchmal Seelenklemptner spielen musste und da rentierte sich das Wegräumen gar nicht mehr. Das musste es sein, er war bei fast allen Schülern beliebt, da kamen sicher noch andere zu ihm, wenn sie Probleme hatten. Ja, das musste es sein.
Während ich darüber nachdachte, hatte er den Sessel schnell herbeigezogen und auf seinem Drehstuhl Platz genommen. „Also, was ist los?", wollte er wissen und beugte sich nach vorne, um sich mit den Ellbogen auf seinen Knien abzustützen. Bei dieser Bewegung fielen ihm einige der hellblonden Strähnen in die Stirn, durch die er mich anblickte. Ich musste der dringenden Versuchung widerstehen, sie ihm aus dem Gesicht zu streichen, doch das übernahm er scheinbar für mich. Er fuhr sich durch die Haare, nur damit sie dann genau an die gleiche Stelle zurückfielen.
Es machte mich so verrückt. Der ganze Zweck dieser Aktion wurde damit verfehlt. Ich biss mir auf die Lippe, aber um die Unruhe in mir zu verstecken, tat ich es ihm gleich, ich stützte mich auf meinen Knien ab und äffte ihn nach: „Also, was ist los?"
Erst blieb sein Blick ernst, doch scheinbar hatte ich es doch geschafft, ihn damit zu belustigen. Ein schiefes Lächeln zog einen seiner Mundwinkel nach oben und er schaute zu Boden. Seine Finger waren verschränkt. Ich dachte daran, was diese Hände gestern getan hatten. Wie sie mich berührten.
Heute war ich mutig. Das Theatertreffen vorhin hatte mich beflügelt, Ben und ich scheinen da wirklich eine große Gemeinsamkeit zu haben und das wollte ich mir nicht durch irgendwelche seltsamen eingebildeten „Gefühle" für meinen Lehrer kaputt machen lassen. Aber „Gefühle" ist absolut übertrieben, er sieht einfach nur gut aus und das ist es, was mich nervös macht. Sonst nichts.
Deshalb beschloss ich, einfach ganz locker mit ihm zu reden und das ganze hier jetzt klarzustellen.
„Okay, dann fange ich eben an. Ich wollte mich bei Ihnen bedanken. Dafür, dass sie sich jetzt schon das zweite Mal so für mich eingesetzt haben. Ohne sie hätte ich die Rolle nie bekommen. Auch, wenn es nur die Zweitbesetzung ist. Ich bin froh, dass ich dabei sein kann." Er hob seinen Kopf und lächelte mich an. Wenn er lächelte, hatte er keine Grübchen wie Ben, aber dafür bildeten sich kleine Fältchen um seine Augen und seine Nase kräuselte sich ein wenig. Ich wollte noch etwas sagen, aber er sah mich schon wieder an und das machte mich total nervös. Heute wollte ich aber mutig und selbstbewusst sein, sagte ich mir und straffte meine Schultern. Mein Herz schlug trotzdem schneller als sonst, das konnte ich nicht leugnen.
Er fuhr sich wieder durch die Haare und benetzte seine Lippen leicht mit seiner Zunge. Meine Hände krallte ich im Sessel ein, denn ich wusste nicht, was ich sonst mit ihnen anstellen sollte. „Dann bin wohl jetzt ich dran.", meinte er und lachte leise, als hätte ich irgend etwas lustiges gesagt. Er schaute auf seine Hände und knetete sie. Er wollte Zeit schinden, aber ich wusste nicht, warum. Kurz druckste er noch herum, fragte dann aber nur, ob es mir besser ging seit gestern.
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all eyes on me
ChickLitEmilia hat tierische Angst davor, vor anderen Leuten zu singen. Trotzdem spricht sie für ein Musical an ihrer Schule vor, schließlich möchte sie neben ihrem Schwarm Ben die Hauptrolle spielen. Ihr Kunstlehrer hilft ihr, ihre Angst zu überwinden, do...