Von Ausreden und Wackelpudding

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Den restlichen Tag konnte ich kaum stillsitzen. Ständig musste ich an das bevorstehende Gespräch mit Herr Visnes denken. Wieso war ich so nervös? Ich wusste doch gar nicht, was er wollte. Es konnte schonmal nicht an meinen Noten liegen, da war alles im grünen Bereich. Natürlich war mir irgendwie klar, dass er über das Casting reden wollte, aber das minderte meine Aufregung nicht wirklich. Ständig schaute ich auf die Uhr, aber mit jeder Minute, mit der ich mich dem Zeitpunkt näherte, an dem ich an seine Tür klopfen müsste, wollte ich mehr weglaufen. Ich überlegte ernsthaft, einfach nicht hinzugehen.

Als es dann zum Schulschluss klingelte, ließ ich mir besonders viel Zeit, alles einzupacken. Ich war so langsam, dass sogar unsere Englischlehrerin auf mich warten musste und schon ungeduldig mit ihrem Schlüsselbund klimperte. Ich murmelte eine Entschuldigung und drückte mich an ihr vorbei durch die Tür. Draußen wartete Aly. „Was brauchst du denn so lange? Meine Ma holt uns doch ab und die hat's echt eilig heute!", wies sie mich zurecht.

Nebeneinander liefen wir die Treppen hinunter. „Hey, ähm ich muss noch auf's Klo und eine Bestätigung im Sekretariat holen für äh - das - ähm ja Dings, eine Befreiung für ... für meinen Arzttermin am Montag! Genau, einen Arzttermin. Also fahrt einfach, wartet nicht auf mich. Ich geh danach zu Fuß nach Hause.", druckste ich herum. Vielleicht sollte ich mir das mit der Musicalkarriere noch einmal überlegen und stattdessen professionelle Ausredenerfinderin werden. Da hatte ich scheinbar echt ein Talent drin. Wow war das schlecht. Aly zog ihre Augenbrauen hoch. Das kaufte sie mir nicht ab. „Okay? Wie du meinst. Dann bis morgen?" Kurz hielt sie inne und es wirkte so, als würde sie noch etwas sagen wollen, aber dann drehte sie sich um und ging mit einem großen dicken Fragezeichen im Gesicht langsam Richtung Ausgang. „Ja, genau, dann bis morgen!", rief ich ihr mit viel zu schriller Stimme hinterher und winkte komisch mit meiner linken Hand. Sobald die Tür hinter ihr zugefallen war, benutzte ich eben diese Hand, um mir damit an die Stirn zu hauen. Wenn der Schauspielteil meines Castings genau so gut sein würde, konnte ich die Rolle vergessen. Warum hatte ich sie überhaupt angelogen? Sonst erzählten wir uns doch auch gegenseitig alles, wieso also nicht dieses mal? Das machte mich traurig und wütend auf mich selbst. Wieso habe ich das geheim gehalten? Ich drückte meine Lippen aufeinander und starrte in den Boden. Dreckig war es hier. Nach einem kurzen Exkurs in den dunklen Teil meines Gehirns, in dem das schlechte Gewissen angesiedelt war, schüttelte ich meinen Kopf, als konnte ich damit die Negativität abschütteln und schaute auf die große Wanduhr in der Aula. Es war eine zwanzig Minuten her, seit die sechste Stunde vorbei war! Wie lang war ich alleine in der Aula gestanden? Hoffentlich hatte das keiner gesehen, es war sicher sehr seltsam. Schnell machte ich mich auf den Weg zu Herr Visnes Klassenzimmer. Vor seiner Tür angekommen stellte ich das alles schon wieder in Frage. Sollte ich da jetzt wirklich reingehen? Aber was sollte denn schon passieren, er wollte doch bloß mit mir reden! Ich hatte ein ganz komisches Gefühl in der Brust und meine Knie waren ganz wabbelig. Irgendwann konnte ich mich endlich dazu durchringen, meine Hand zu heben und zu klopfen. Wieso war ich denn nur so aufgeregt? Ich hatte doch schon öfter mit Lehrern geredet, das war ja jetzt wirklich nichts besonderes. Sind ja auch bloß Menschen. Aber eben noch nie wirklich über meine Zukunftsträume und Ängste und sowas. Darüber konnte ich ja noch nicht einmal mit Aly wirklich reden. Ich kniff meine Augen zusammen und war drauf und dran, einfach nach Hause zu gehen. In diesem Moment wurde aber die Tür aufgerissen. Ich zuckte zusammen und schnappte nach Luft. Mit weit aufgerissenen Augen standen Herr Visnes und ich uns gegenüber, beide in einer Schockstarre verharrend. Auf einmal bemerkte ich, dass meine Hand ja immer noch in der Luft war und ich versuchte es mit einer coolen Geste zu überspielen, als würd ich ihn grüßen. Die Bewegung sah aber eher aus, als hätte eine nervige Mücke mich aus einem Dornröschenschlaf geweckt. Sehr elegant. Na super Lia. Am liebsten hätte ich mir selbst eine gewatscht. Auch der Kunstlehrer erwachte wieder aus seiner Schockstarre und fuhr sich durch die Haare. Verlegen schauten wir beide zu Boden. „Ähm hi Lia - Emilia! Komm - komm doch rein.", stotterte er und wies mit einer Handbewegung in den Kunstsaal, als wäre es sein unaufgeräumtes Wohnzimmer und ich seine Schwiegermutter. Ich musste lächeln. Seine Schüchternheit war irgendwie süß. Naja, so süß wie ein Lehrer eben sein konnte. Aber dafür war er schon ziemlich süß. Halt, was dachte ich da? Ich schüttelte meinen Kopf, um diese Gedanken loszuwerden. Er zuckte leicht zusammen, so wenig, dass man es fast nicht merkte. „Willst du nicht mit mir reden? Also weißt du, wir müssen auch nicht, das ist nur ein Angebot, also" Er wirkte bestürzter, als ich es erwartet hätte. „Nein, nein! Alles gut, ich war nur gerade in Gedanken.", beruhigte ich ihn. Zum Glück, denn diese Gedanken lenkten mich wenigstens etwas von meiner Angst ab und gaben mir ein bisschen Mut zurück, so bedachte ich ihn mit einem frechen Grinsen. „Bei Ihnen alles okay? Sie wirken so eingeschüchtert. Mach ich Ihnen Angst?" Mit diesen Worten schlenderte ich, so cool, wie es mit Wackelpuddingknien eben ging, an ihm vorbei in das Klassenzimmer, nicht, ohne mich vorher noch einmal umzusehen, ob uns jemand beobachtete. Etwas perplex schloss er die Tür hinter mir. Er murmelte etwas in seinen nur spärlich vorhandenen Bart, das ich nicht verstehen konnte, holte dann tief Luft und meinte: „Nein, natürlich nicht, ehm, alles Ordnung bei mir also alles in Ordnung meine ich." Er fuhr sich mit der Hand über sein Gesicht. Ich bemerkte, wie er für dieses Herumgestottere schon wieder am liebsten im Erdboden versinken würde und das brachte mich zum Lachen. Entsetzt verharrte er in seiner Position und schaute mich mit großen Augen an. Wieso war er seit letztem Mal so? Davor hatte er immer so locker und cool gewirkt, als könne ihn nichts aus der Bahn werfen und als wäre ihm vieles einfach egal. Dass er sich jetzt so verkrampft benahm konnte ich mir überhaupt nicht erklären. Ich wollte ihn aber nicht noch mehr verunsichern, als er sowieso gerade schon war und versuchte die Situation etwas zu beschwichtigen: „Keine Sorge, ich lache nicht über Sie, sondern eigentlich eher über mich, beziehungsweise darüber, dass es mir auch oft so geht wie Ihnen gerade und jetzt bin ich ganz froh, dass ich nicht die Einzige bin, die sich verhaspelt und sich dann dafür schämt, obwohl es eigentlich überhaupt nicht schlimm ist und meistens gar nicht auffällt. Also alles gut." Ich lächelte ihn an und er musste auch ein bisschen grinsen. 

Nachdem er noch kurz in den Boden gestarrt hatte (den wunderschönen Linoleumboden), hatte er scheinbar seine Fassung wiedergewonnen und bot mir wieder den überraschend bequemen Sessel an, den er diesmal mit ein bisschen mehr Entfernung zu seinem Drehstuhl platziert hatte als letztes Mal. Wahrscheinlich als Sicherheitsmaßnahme, um nicht noch einmal mit Herrn von Wildenberg reden zu müssen. Der Gedanke daran, wie furchtbar unangenehm dieses Gespräch wahrscheinlich gewesen sein musste, machte mein Grinsen noch breiter. Nach diesem kleinen Exkurs in die Unsicherheiten meiner Person war ich irgendwie viel lockerer. Da redete ich ja wirklich viel lieber mit Herr Visnes als mit diesem Monster von Musiklehrer. Wieso war ich überhaupt aufgeregt gewesen? Herr Visnes ist doch sowieso mein Lieblingslehrer und Kunst eines meiner Lieblingsfächer, da musste ich mich wenigstens schonmal nicht für schlechte Leistungen oder so schämen. Ich stellte meine Sachen neben dem Sessel ab und ließ mich darauf fallen, uneleganter als beabsichtigt, ich landete mit meinem Oberschenkel auf einer Feder und das tat wahnsinnig weh, aber ich versuchte es mir nicht anmerken zu lassen. Das funktionierte dank der Grimasse in meinem Gesicht besonders gut und diesmal war der Lehrer an der Reihe zu lachen. „Da bin ich jetzt froh, dass ich nicht der einzige bin, der nicht richtig sitzen kann. Was meinst du, wie oft ich schon fast meinen Stuhl im Unterricht verfehlt hätte? Da bleibt einem echt kurz das Herz stehen, stell dir vor ich setz mich vor der ganzen Klasse auf den Boden!", er lachte schallend und steckte mich damit an. Spätestens jetzt war meine Aufregung weg. Er schaffte es irgendwie mich so von meinen Problemen abzulenken, dass ich kaum mehr darüber nachdachte.

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