Mit der Zeit wurde mir klar, dass ich mich überhaupt nicht mehr auf das Musical freute. Ich wollte es nicht sehen, nicht hören, mich nicht damit beschäftigen, nicht mithelfen und schon gar nicht anderen dabei zusehen, wie sie meine Rolle spielten. Das war mein Traum und ich wollte das. Auf einmal war ich so sauer auf mich selbst. Wieso konnte ich es nicht einfach versuchen? Wieso hatte ich mich nicht in diese blöde Liste eingetragen? Aber jetzt war es zu spät. Es wollten so viele vorsprechen, die Wahrscheinlichkeit, dass ich genommen wurde, ging sowieso gegen null. Apropos null, vielleicht sollte ich mich besser auf den Matheunterricht konzentrieren. Ich hob meinen Blick und starrte auf die Tafel mit den Formeln, die wir gerade behandelten, aber je länger ich sie anschaute, desto mehr verschwammen sie vor meinen Augen und ich musste meinen Kopf wieder senken. Ich durfte jetzt nicht weinen. Nicht mitten im Unterricht. Nein. Ich presste meine Augenlider ganz fest zusammen. „Lia, komm doch bitte nach vorne und rechne uns die Aufgabe an der Tafel vor!", rief meine Lehrerin mich auf. Als ich nach vorne schaute, sah ich zwischen dem ganzen Wasser in meinen Augen nur schemenhaft ihre Gestalt, die mir die Kreide entgegenstreckte. „Darf ich, darf ich kurz raus?", schluchzte ich, stand auf und hastete aus dem Klassenzimmer, ohne eine Antwort abzuwarten. Perplex starrte meine Lehrerin mir hinterher und sagte auch noch nichts, als Alyssa mir mit einem entschuldigenden Schulterzucken folgte. In einer Nische rutschte ich mit dem Rücken an der Wand zu Boden. Ich schniefte und versuchte noch immer die Tränen zurückzuhalten, aber ich scheiterte kläglich. Alyssa hielt kurz inne, als sie um die Ecke bog und mich sah, nahm mich dann aber einfach in den Arm. Nach einiger Zeit Heulen und Schniefen schaute ich meine beste Freundin an. Zum Glück war ich nicht geschminkt, sonst wäre jetzt alles verschmiert und ich würde noch schlimmer aussehen, als sowieso schon. „Was ist denn los, Kleine?", fragte Alyssa fürsorglich und strich mir noch eine Träne von der Wange. Ihre Anwesenheit tat gut. Ich wusste nicht wirklich, wie ich ihr von meinem unrealistischen Traum erzählen sollte und druckste ein wenig herum, bis sie mich aufforderte: „Spuck's doch einfach aus, so schlimm kann es doch gar nicht sein." Etwas beruhigt platzte ich sofort heraus: „Ich will die Hauptrolle!" Das war lauter als beabsichtigt. Und Alyssa lachte. Sie lachte aus vollem Herzen, bis ihr irgendwann Tränen in den Augen standen. Ich fand das überhaupt nicht lustig. Da weihte ich sie in mein Geheimnis ein und sie lachte mich aus? Verärgert und gedemütigt machte ich mich daran aufzustehen, aber sie nahm meine Hand und zog mich wieder neben sich. „Lia, bitte bleib hier. Dir ist doch klar, dass ich dich nicht auslache, oder?" Das war mir nicht klar. „Ich lache, weil ich so erleichtert bin. Seitdem du von diesem Musical weißt, bist du ganz komisch, redest nicht mehr mit mir, starrst ständig irgendwelche Löcher in die Luft und bist mega reizbar. Ich dachte schon, du magst mich nicht mehr oder hättest irgendwelche Probleme in deiner Familie oder so. Jetzt bin ich echt beruhigt. Dann habe ich ja das richtige getan.", meinte sie und lächelte mir aufmunternd zu. Mein Gehirn schaltete ziemlich langsam. „Was genau hast du getan?", fragte ich nach und betonte jedes Wort einzeln. Alyssa zuckte mit den Schultern. Sie wusste, dass mich das wahnsinnig machte. „Jetzt sag schon!", verlangte ich und rüttelte an ihrem Arm. „Naja,", sagte sie und zupfte betont langsam einen Fussel von ihrem Pulli. „Spann mich nicht so auf die Folter!", quengelte ich. „Du hast mir am Freitag gesagt, ich solle dich eintragen. Aber du hast nicht gesagt, wo." „Ich dachte es wäre abgemacht, dass wir beide bei Szenen- und Kostümbild helfen?", fragte ich ungläubig. „Das ist mein Ding. Ich weiß doch, dass du dass nicht machen willst. Also habe ich dich als Cinderella eingetragen.", erzählte Alyssa gespielt ungerührt und betrachtete in scheinbarem Gleichmut ihre rot lackierten Fingernägel. Mein Mund klappte auf und ich bekam ihn nicht mehr zu. Ich konnte mich nicht bewegen, geschweige denn irgendetwas dazu sagen. Das Grinsen auf ihrem Gesicht wurde immer breiter und irgendwann strahlte meine beste Freundin mich förmlich an. Mein Mund klappte auf und zu. Wie ein Fisch. Ein Fisch mit fettigen Haaren. Ich wusste wirklich nicht, ob ich ihr um den Hals fallen oder sie beschimpfen sollte. Einerseits war diese Rolle alles, wovon ich jemals geträumt hatte. Genau das, was ich mir immer vorgestellt hatte, wenn ich vor dem Spiegel getanzt und gesungen hatte. Das klang so albern. Andererseits hatte ich eine Heidenangst. Ich konnte das nicht. Ich würde ja noch nicht einmal beim Casting vorsingen können. Alyssa blickte mich fragend an, denn entsprechend meinen Gedanken hatte sich auch mein Gesichtsausdruck verändert. Ich fiel ihr um den Hals und sie drückte mich ganz fest. „Du schaffst das!", flüsterte sie mir ins Ohr. Und in diesem Moment wurde mir klar, dass ich es schaffen wollte. Ich wollte diese Rolle und ich würde sie bekommen. Und dieses Mal würde ich mir nicht selbst im Weg stehen wie sonst immer. Dieses Mal würde ich es schaffen.
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all eyes on me
ChickLitEmilia hat tierische Angst davor, vor anderen Leuten zu singen. Trotzdem spricht sie für ein Musical an ihrer Schule vor, schließlich möchte sie neben ihrem Schwarm Ben die Hauptrolle spielen. Ihr Kunstlehrer hilft ihr, ihre Angst zu überwinden, do...