Von ausrangierten Socken im Schlussverkauf

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Schon seit Tagen laberte Alyssa mich über ihre Visionen von Kostümen für das Musical zu und ab dem zweiten Mal hatte ich nur noch mit einem halben Ohr zugehört. Die andere Hälfte war dafür da, um dem Unterricht wenigstens noch ansatzweise zu folgen und das zweite Ohr schaltete ich einfach ab, um in Ruhe nachdenken zu können. Wie gerne würde ich bei dieser Musicalproduktion mitmachen. Wie unglaublich gerne. Aber das traue ich mich einfach nicht. Nein, das soll jemand anderes machen. Jemand, der das auch wirklich kann. Und nicht ich. Vielleicht trage ich mich auch für Bühnen- oder Kostümbild ein. Auch wenn ich nicht nähen kann und keine Ahnung von irgendwelchen Schreinerarbeiten für die Kulissen habe. Aber hey, das wäre sicher lustig, wenn Alyssa und ich das machen würden. Ja, das wäre eine gute Idee. Dann trage ich mich nachher in der Pause gleich ein.

Natürlich hatte ich mich in der Pause nicht eingetragen. Auch wenn ich es Alyssa so gesagt habe. Zu allem Übel hatten wir dann auch noch eine Freistunde und obwohl ich mich darüber immer besonders freue, hat es mich heute eher geärgert. Weil ich dann noch mehr Zeit hatte, über dieses blöde Musical nachzudenken. Ich hatte mich noch nicht einmal getraut, die Liste anzusehen. Wahrscheinlich hätte ich gegen die Mitbewerberinnen sowieso keine Chance. Das waren sicher alle aus dieser Beliebten-Clique aus der Oberstufe. Da kann ich niemals mithalten. Aber vielleicht sollte ich ... die Liste wenigstens einmal anschauen. Sobald ich diesen Entschluss gefasst hatte, sprang ich sofort auf und marschierte zielgerichtet auf das Musikerbrett zu. „Hey, was soll denn das?", protestierte Alyssa, als ich wie von der Tarantel gestochen quer durch die ganze Aula jagte. Verständlich, denn ich war nicht sonderlich gesprächig, blockte sie immer nur ab und lief dann einfach weg. Etwas beleidigt stapfte sie mir hinterher. Währenddessen war ich schon fast an meinem Ziel angekommen, wurde aber dann abrupt von einer Hand abgebremst, die mich packte und herumwirbelte. „Du sagst mir jetzt sofort, was los ist. Irgendwas stimmt doch nicht!", stellte meine beste Freundin mich zur Rede. Ich starrte auf den Boden, zuckte mit meinen Schultern und warf dann einen sehnsüchtigen Blick Richtung Castinglisten. Alyssa verstand schon. „Ach, wie konnte ich denn nur so blind sein.", rief sie und schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Und ich dachte schon du hast einen Crush auf jemanden, der immer da hinten chillt, willst es mir aber nicht sagen. Aber stattdessen stehst du wohl auf Musicals!", stellte sie triumphierend fest. Schuldbewusst zuckte ich mit den Schultern, sagte aber noch kein Wort, ich wüsste auch nicht, was. „Na komm, das haben wir doch gleich!", beschloss Alyssa und zog mich an meinem Ärmel hinter sich her. Nicht einmal, als wir direkt davor standen traute ich mich zu lesen, was direkt vor meiner Nase geschrieben stand. „So, was willst du denn machen, wir hätten einmal natürlich den Prinzen, haha, war natürlich nur ein Spaß!", scherzte sie, aber mir war gar nicht zu lachen zumute. Stattdessen schniefte ich einmal herzzerreißend. Davon ließ Alyssa sich aber überhaupt nicht beirren und redete einfach weiter: „Okay, jetzt aber ernsthaft. Zur Auswahl stehen: Mäuse oder Vögel, eines der Mädchen, die den Schuh probieren, ein Ballgast, ein Hochzeitsgast, eine Stiefschwester, die böse Stiefmutter, die gute Fee-.... Ja genau, das wars. Jetzt musst du dich nur noch entscheiden. Du kannst ja auch mehrere Nebenrollen spielen, aber ich glaube bei diesem Andrang wird jede Rolle nur einfach besetzt.", meinte sie, wies mit ihrer Fingerspitze die Listen auf und ab und schaute mich dann eindringlich an. „Jetzt sag schon Lia, wir müssen dich jetzt eintragen, gleich ist die Freistunde um und dann kommen wieder die ganzen kleinen Kinder und heute ist Freitag, da werden die Listen nach der sechsten Stunde abgehängt und das weißt du auch. Also komm, sag schon.", forderte Alyssa mich nochmals auf. Ich hatte mich immer noch nicht bewegt und stand mit eingezogenem Kopf wie ein kleines Häufchen Elend vor der gerade überdimensional groß wirkenden Pinnwand. Ich zuckte mit den Schultern. Als ob sie dadurch verstehen würde, dass ich die Hauptrolle will. Das war es. Ich wollte die Hauptrolle. Mehr als alles andere. Aber gleichzeitig wollte ich sie auch weniger als alles andere. Und vor allem wollte ich nicht, dass Alyssa von meinem Wunschtraum erfuhr. Das sollte mein kleines gut gehütetes Geheimnis bleiben. Und ich würde mich jetzt für das Bühnenbildteam eintragen fertig aus. Ich atmete noch einmal tief ein, schloss meine Augen und hob meinen Kopf. Bevor ich sie wieder öffnen konnte, musste ich allerdings noch einmal innehalten. Welches Musical wurde denn überhaupt gespielt? Und wieso hatte ich mir darüber noch keine Gedanken gemacht? Seit Tagen konnte ich diese blöde Produktion nicht aus meinem Kopf verbannen und da fragte ich mich nicht ein einziges Mal, was überhaupt das Thema war? Vielleicht mochte ich die Geschichte gar nicht und mein Problem wäre auf einen Schlag gelöst. Doch dieser Gedanke machte mich nur noch nervöser. Was, wenn es absolut perfekt wäre und ich würde es lieben und mir in den Kopf setzen, dass ich das machen will und wäre dann todunglücklich, weil ich es nicht schaffe oder mich nicht traue? Was dann? Von einem ungewöhnlich lauten und extrem nervigen Geräusch neben meinem Ohr zuckte ich zusammen. „Halle, Erde an Lia, bist du jetzt im Stehen eingeschlafen, oder was?", maulte Alyssa mich an. Nein, das nervtötende Geräusch war nicht ihre Stimme, sondern ihr Fingerschnippen ungefähr eineinhalb Zentimeter von meinem Ohr entfernt. „Sorry...", murmelte ich und blickte sie irritiert an. „Was ist denn eigentlich das Thema?",wollte ich etwas durch den Wind wissen. „Oh man Lia, ich wusste ja, dass du verpeilt bist, aber wie wenig bekommst du denn bitte mit? Das Musical ist die ganze Woche schon Gesprächsthema Nummer eins und du weißt noch nicht einmal, worum es geht?" Alyssa war empört. „Kannst du jetzt noch nicht einmal mehr lesen oder was?", fragte sie und tippte auf das Plakat direkt neben uns. Mein Kopf erkannte Buchstaben, konnte aber kein sinnvolles Wort daraus bilden. Das Bild daneben gab jedoch Aufschluss. Cinderella. Zwar nicht das, was ich mir vorgestellt hatte, aber trotzdem einfach traumhaft. Wortwörtlich. Mein Herz drohte zu zerspringen. Noch nie hatte ich mir so sehr etwas gewünscht wie diese Rolle. Alyssa schaute mich etwas schräg von der Seite an und es klingelte. Als nächstes fiel mein Blick auf die zwei Zusatzzettel, die an die Hauptrollenliste angehängt waren und mein Herz rutschte an meinem Magen vorbei, der sich bei dieser Gelegenheit umdrehte und nahm mit rasender Geschwindigkeit Kurs auf Richtung Boden. Mir wurde schlagartig übel und ich konnte meiner besten Freundin nur noch zurufen „Trag mich ein!", bevor ich mir die Hand auf den Mund presste und schnellstmöglich die Flucht zum nächsten Klo antrat. Aber nicht um mir die Seele aus dem Leib zu kotzen, sondern um mich in der letzten Kabine hinten rechts einzusperren und mir das Herz, das bis in meine gefütterten Winterstiefeletten gerutscht war, aus dem Leib zu heulen. Wie dumm war ich auch anzunehmen, dass es einzig und allein an meiner Entscheidung liegt, ob ich die Rolle bekomme oder nicht. Deswegen heißt es auch Casting-Liste und nicht AllesläuftnachdeinenVorstellungenundwirschmeißendirdieHauptrollehinterherwieeinpaarausrangierteSockenimSchlussverkauf-Liste. Ich Idiot.

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