Englisch verging wie im Flug, obwohl ich mich krampfhaft an jede Minute klammerte in der Hoffnung, sie damit in die Länge zu ziehen. Das funktionierte aber eher mittelgut, irgendwann war es zwangsläufig soweit: die Klingel verkündete den Beginn der Pause. Ab jetzt hatte ich nur noch fünfzehn Minuten, um mich mental auf mein eigentlich Lieblingsfach vorzubereiten, auf das ich mich normalerweise die ganze Woche freute. Aly und ich bezogen wieder unseren Posten in der Aula, von wo aus man einen relativ guten Überblick über den großen, hohen Raum hatte, vor allem auch zum Tisch der Reichen und Schönen. Das einzige, was mich jetzt noch aufheitern könnte, war der Anblick von Ben. Er ließ ganz schön auf sich warten, aber auf einmal war er da und erhellte die Halle mit seinem Lächeln. Die Zähne mussten einfach gebleacht sein, die konnten doch natürlicherweise gar nicht so weiß sein, oder? Und diese Haare konnten doch auch nicht von selbst so schwarz sein, oder? Gedankenverloren schaute ich hinüber, bis Aly mich plötzlich anstupste. Wie aus einer Trance gerissen zuckte ich zusammen und drehte meinen Kopf zu ihr. „Schau mal wer da kommt!", flüsterte sie und nickte mit ihrem Kopf auf die gegenüberliegende Seite des Raumes. Langsam drehte ich meinen Kopf in diese Richtung und befürchtete schon das Schlimmste, nämlich dass der Visnes da sein würde, aber zu meiner Erleichterung war er es nicht. Naja, ob es so eine große Erleichterung war, war ich mir nicht sicher, denn ich begann am ganzen Körper zu vibrieren und meine Hände zitterten wie wahnsinnig. Ich war mir sicher, dass man mein Herz schlagen hören konnte und sich gerade riesige Schweißflecken unter meinen Armen bildeten. Es fühlte sich an, als wäre ich soeben einen Marathon gelaufen und als wäre das noch nicht genug, habe ich mich dann auch noch dafür entschieden, mit einem Tretboot den Atlantik zu überqueren. Hektisch fuhr ich mir durch die Haare und wischte nicht vorhandene Krümel vom Tisch und von meinem Mantel. Zum Glück konnte ich auf Alyssa zählen: „Keine Sorge, du siehst gut aus!", wisperte sie mir zu, kurz bevor er unseren Tisch erreicht hatte und gab meinem Selbstbewusstsein damit nochmal einen kleinen mehr als nötigen Schubs. „Hey Lia, wie gehts? Ich - ich wollte dich fragen, naja, ich habe deinen Namen auf der Castingliste stehen sehen und irgendwie dachte ich ... naja ich dachte, das Vorsprechen ist ja schon in einer Woche und ... hättest du Lust, dass wir mal zusammen proben?" Ich war sprachlos. Was sollte ich nur sagen? Außer natürlich ja? Aber das brachte ich gerade nicht über die Lippen. Ich saß da, mit offenen Mund, sah wahrscheinlich aus wie ein toter Goldfisch und schaute ihn einfach nur an. Aly kicherte, knuffte mich in die Seite und befreite mich so aus meiner Schockstarre. „Äh, du, äh ja klar, wieso nicht? Gerne! Klar!", meinte ich, etwas zu laut, aber das war wohl der Aufregung (und sicherlich auch meiner fehlenden sozialen Kompetenz) geschuldet. Ein breites Lächeln legte sich auf sein Gesicht. „Cool. Morgen gleich? Oder am Sonntag? Dann haben wir möglichst viel Zeit zum üben." Ich war immer noch überwältigt. „Morgen vormittag hab ich Ballett, aber nachmittags?", meinte ich, jetzt etwas kontrollierter. „Okay passt, komm danach einfach zu mir." „Okay, cool!", quietschte ich ziemlich uncool und winkte zum Abschied superseltsam mit meiner Hand, aber das war mir egal. Er durchquerte den Raum wieder, drehte sich dabei noch einmal um und lächelte mir zu. Wieder bei den Schönen und Reichen angekommen ließ er sich zurück auf seinen Platz fallen und klatschte bei seinen Kumpels ein. Während der Pause trafen sich unsere Blicke immer wieder und das machte meinen Körper ganz kribbelig. Ich konnte es nicht glauben. Trotz aller Bulldozer-Attacken und fettigen Haare hatte mich gerade Ben nach einem Date gefragt. Ben. Naja, ob es ein Date war, war ich mir nicht ganz sicher, aber Tatsache war: wir würden morgen den ganzen Nachmittag zusammen verbringen. Das war mein Traum. Seit ich denken kann. Naja, mein zweiter Traum. Schwierig zu sagen, welches der wichtigere Traum ist - Ben oder das Musical.
Aly schaute mich ungläubig von der Seite an und drückte mich dann ganz fest, was ziemlich unbequem war, aber auch ziemlich schön. Das Kopfweh von vorhin war komplett verschwunden und stattdessen war mein Gehirn erfüllt von einer luftigen Zuckerwatte, die jegliche negative Gedanken in süße Pralinen verwandelte. Noch nicht einmal die Klingel, die das Ende der Pause und das bevorstehende Grauen verkündete, konnte mir in diesem Moment einen Dämpfer versetzen. Ich konnte nur noch verträumt herzförmige Löcher in die Luft starren und hätte am liebsten auf der Stelle das Singen angefangen, aber das ging dann wohl doch zu weit. „Fundus. Nach der sechsten Stunde.", statuierte Aly und klopfte dabei mit einem Finger auf den Tisch und ich wusste, was dann anstand: Hysterisches Kreischen und eine genaue Analyse der Situation und sämtlicher Outfitmöglichkeiten. Ich freute mich so darauf und musste grinsen.
Dieses frohdämliche Grinsen wurde mir erst von der niedergeschlagenen Miene von Herr Visnes aus dem Gesicht gewischt. Was war denn mit dem heute los? Konzentriert starrte er auf seinen Schreibtisch und schien in irgendeine Tabelle vertieft. Sonst wartete er schon voller Elan vor der ersten Folie seiner Powerpointpräsentation und konnte es gar nicht erwarten anzufangen, wie Referendare eben so sind. Aber heute war es ganz anders. In diesem Moment fiel mir auf, dass ich mir ja auch noch gar nicht überlegt hatte, wie ich unauffällig meine Sachen wiederbekommen sollte. Ich sah sie nirgends stehen. Vielleicht hatte er sich gedacht, dass es sicher komisch wäre, wenn mein Zeug den ganzen Tag rumliegt und alle anderen Schüler das sehen und hat es deswegen weggeräumt. Dann muss ich wohl oder übel nochmal nach dem Unterricht dableiben. Ich seufzte und ließ mich auf meinem Stuhl nieder, mein Blick ruhte auf ihm. Plötzlich hob er seinen Kopf und wir schauten uns an. Länger als jemals bisher und auf jeden Fall länger als gestern. Meine Brust begann zu kribbeln. Dieses Mal brach ich den Blickkontakt ab. Es wäre sonst sicher komisch gewesen für alle, die uns zugesehen haben. Und ziemlich auffällig. Aber wieso eigentlich auffällig? Wir taten ja nichts verbotenes, oder? Gut, dass er mich berührt hatte, ist so eigentlich nicht erlaubt, aber ein Gespräch zwischen Schüler und Lehrer, in das beide einwilligen, ist doch ganz normal, oder nicht? Wieso fühlte es sich dann so tabu an? Ich spielte mit Alys Stift herum und fing wieder an, auf dem Tisch herumzukritzeln. Glücklicherweise fiel das kaum auf, denn die Tische in unserer Schule hatten alle schon bessere Tage gesehen. Ich malte Blumen, Bäume, Schmetterlinge und ganz viele Herzchen. Große, kleine, schöne, hässliche, mit Bens und meinen Initialen und ohne. Als wäre ich zwölf. Naja, wenn man es genau nimmt, habe ich genau das gleiche, sogar mit den gleichen Namen auch mit zwölf schon gemacht. Hat sich wohl doch nicht so viel verändert. Allein beim Gedanken an den morgigen Tag schlug mein Herz schneller und mir wurde heiß. Das, was ich mir schon seit meinem ganzen Leben wünsche, ist endlich wahr geworden! Jetzt muss nur noch das mit dem Musical klappen.
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all eyes on me
ChickLitEmilia hat tierische Angst davor, vor anderen Leuten zu singen. Trotzdem spricht sie für ein Musical an ihrer Schule vor, schließlich möchte sie neben ihrem Schwarm Ben die Hauptrolle spielen. Ihr Kunstlehrer hilft ihr, ihre Angst zu überwinden, do...