Von Barbiefilmen und enttäuschenden Erwartungen

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Heute war es so weit. Heute war der Tag des Castings. Heute würde sich alles entscheiden.

Okay, der letzte Gedanke war vielleicht etwas dramatisch, aber mein Puls ging seit ich aufgewacht war mindestens so schnell, als müsste ich heute die Welt retten.

Aly hatte bei mir übernachtet, um mir schon früh am Morgen zu Seite zu stehen, damit heute auf gar keinen Fall irgendetwas schief gehen konnte, wo ich sowieso schon so nervös war. Sie hatte ihren Platz im Kostümbildnerteam schon und den konnte ihr auch niemand mehr wegnehmen - ganz im Gegenteil, es wurden noch Leute gesucht, denn scheinbar gab es an unserer Schule nicht wirklich viele Ausnahmetalente wie Aly, die das Entwerfen und Nähen liebten.

Die Castings fanden gleich nach dem Unterricht statt, es war nur eine ganz kurze Pause, aber nicht genug Zeit, um sich umzuziehen. Ich musste also den ganzen Tag das Outfit tragen, das ich auch später beim Vorsprechen und Tanzen anhaben würde. Sonst fand ich Mode schon auch cool und es machte Spaß, mir verschiedene Outfits zu überlegen, aber heute wollte ich kein Risiko eingehen, also legte ich mein Schicksal lieber in die Hände eines Profis.

Meine beste Freundin hatte mir etwas zusammengestellt, das förmlich ‚Cinderella' schrie und trotzdem alltagstauglich war. Ein Korsagentop in weiß, kombiniert mit einem wadenlangen Tüllrock, der schön schwingen würde beim Tanzen und geschnürten Stiefelchen mit kleinen Absätzen.

Nachdem sie mir die Haare gemacht und mich geschminkt hatte, drehte ich mich vor dem Spiegel und wusste nicht, wie ich ihr danken sollte. Ich hatte mich noch nie so hübsch gefühlt und diesen Schub an Selbstbewusstsein konnte ich gerade mehr als gebrauchen. Wenn ich an das Casting dachte, lief es mir kalt den Rücken hinunter. Nachher würde ich vor der Jury singen müssen. Vor Herr Wildenberg, der sowieso immer wahnsinnig nett war und noch ein paar anderen beteiligten Lehrern. Ich hoffte, dass unsere Direktorin nicht auch da sein würde. Ihre Anwesenheit verunsicherte mich. Leider war dieses ganze Musical ihre Idee gewesen, sie liebte scheinbar die Oper, und weil sie uns (und vermutlich sich selbst) das nicht antun wollte, hatte sie für eine „abgeschwächte Variante" plädiert.

Selbst wenn sie da sein sollte - ich würde mich wohl oder übel daran gewöhnen müssen, schließlich würde ich früher oder später sowieso vor ihr und wahrscheinlich hunderten anderen Leuten singen müssen.

Wie an vielen anderen Tagen in der letzten Woche konnte ich im Unterricht kaum stillsitzen. Das fiel aber glücklicherweise kaum auf, denn wir wurden alle ständig ermahnt, uns zu konzentrieren. Scheinbar war ich nicht die einzig nervöse vor dem Casting.

In der Pause hielt ich immer wieder nach Ben Ausschau, schließlich wollte ich ihm noch Hals- und Beinbruch wünschen, aber ich konnte ihn nicht bei den Schönen und Reichen entdecken.

Auch in der zweiten Pause war er noch nicht aufgetaucht und langsam machte ich mir Sorgen. Als es klingelte, lief ich kurz zu Diana und tippte ihr mit klopfendem Herzen auf die Schulter. So etwas machte man bei uns an der Schule eigentlich nicht. Einfach so die Schönen und Reichen ansprechen. Wenn dann machten die das.

Sie drehte sich um und lächelte mich an. „Oh hey, Lia, richtig?" Sie erinnerte sich sogar an mich! Welche Ehre.

„Ja, stimmt genau.", sagte ich und lächelte zurück. „Hey ähm ich wollte fragen, ob du weißt, wo Ben ist? Heute ist doch das Casting und ..." Ich brachte meinen Satz nicht mehr zu Ende, irgendwie wusste ich nicht, was ich nach dem ‚und' noch sagen sollte, aber Diana half mir aus: „Das habe ich mich ehrlich gesagt auch schon gefragt." Sie verzog ihren Schmollmund und schien nachzudenken.

Sie sah heute wirklich mal wieder absolut perfekt aus. Sie hatte sich sicher auch an der Cinderella-Thematik orientiert, als sie ihr Outfit ausgewählt hatte. Ein hellblaues Oberteil mit Puffärmeln, ein ausgestellter Minirock und ein Perlenhaarreif. Wir sahen wahrscheinlich nebeneinander aus wie einem Barbiefilm entsprungen, aber damit konnte ich leben.

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