Von Hinterlassenschaften von Zugtieren

56 7 0
                                    


Als ich am Montagmorgen in die Schule kam, sah ich noch geräderter aus als sonst. Und zwar wirklich. Ich sah aus, als wären einige Räder über mich drüber gerollt. Aber nicht diese weichen, mit Luft gefüllten, nein, Ich meine diese Holzräder mit Eisenrand. Die, die damals die Kutschen dran hatten. Die sind über mich gerollt. Und die Pferde natürlich gleich mit. Aber selbstverständlich nicht gerollt. Sondern gelaufen. Galoppiert um genau zu sein. Mehrmals. Wann ich mir das letzte mal die Haare gewaschen hatte wusste ich nicht. Freitag? Oder Mittwoch? Bei entsprechenden Temperaturen hätte man darin auf jeden Fall Pommes frittieren können. Und als Dessert dann mein Gesicht. Ja - Streuselkuchen. So sah ich also an diesem Montagmorgen aus, als ich die Schule betrat. Das ganze Wochenende über hatte ich sehr schlecht geschlafen, ich bekam einfach diese Musicalsache nicht mehr aus dem Kopf und riss meinen Mund zum Gähnen auch dementsprechend weit auf. Hand vorhalten musste natürlich auch nicht sein, beziehungswiese war das gerade quasi unmöglich, denn in einer Hand hatte ich meinen Ordner und mit der anderen Hand musste ich die Türe aufdrücken. Es wunderte mich, dass diese Person tatsächlich in mich hinein rempelte und nicht einfach in meinem Schlund verschwand, weil ich sie aus Versehen inhaliert hatte. Vor Schock biss ich mir auf die Zunge und auch mein Gegenüber schien etwas verschreckt. Vielleicht lag das aber auch nur an meinem atemberaubenden Auftritt. Als ich jedoch erkannte wer es war, verschlug es mir mit einem mal die Sprache. Ben. Na super. Ausgerechnet heute. Ausgerechnet heute, wo ich so beschissen aussehe wie an sonst keinem anderen Tag in meinem ganzen Leben. Aber das wäre ihm doch sowieso nicht aufgefallen. Ich kannte ihn seit ich denken konnte und sogar, als ich noch gar nicht wusste, was ein Schwarm ist, wusste ich, dass er meiner war. Nur er wusste das leider nicht. Und so musste ich mich bisher damit begnügen, ihn aus der Ferne anzuschmachten. Nicht so aber heute, nein nein! Heute, wo ich schon von mindestens vierunddreißig Kutschen gerädert worden war (das hatten wir vorher bereits) und wahrscheinlich roch wie die Hinterlassenschaften der Zugtiere, da entschloss sich der feine Herr in mich hineinzulaufen. Danke für nichts. Da will ich ihm seit Jahren auffallen und dann schaffe ich das so. Wirklich ganz toll gemacht, Lia. Scheinbar hatte ich ihn während meiner kleinen Gedankenexkursion in den Straßenverkehr vergangener Zeiten unentwegt angestarrt und er fühlte sich davon ein klein wenig belästigt. Er zog seine sehr weich anmutenden Hände, die er ausgestreckt hatte, um mich im Notfall aufzufangen und nur ganz wenig von mir entfernt waren, wieder zurück und zog seine Jacke wieder nach unten. Ganz ehrlich - ich würde mich in dieser Verfassung auch nicht anfassen wollen. Auch ich richtete mich auf und wurstelte an dem Vogelnest auf meinem Kopf herum. Wir wussten beide nicht wirklich, was wir jetzt tun sollten, also fragte er schnell: „Alles okay bei dir?" Und ich nickte nur schüchtern. Zum Abschied schenkte er mir ein vorsichtiges Lächeln mit seinen sicher ultrasoften Lippen, die sicher noch weicher waren als meine Daunenbettdecke und hielt mir die Tür auf. Mit einem kleinen Nicken bedankte ich mich und machte mich dann schnellstmöglich aus dem Staub.

Absolut peinlich berührt ließ ich mich neben Alyssa auf den Boden fallen und begann hysterisch zu kichern. „Was ist denn mit dir los? Weckst mich einfach aus meinem sehr nötigen Schönheitsschlaf auf. Was soll denn das?", nörgelte sie und sie mich an. Dann prustete sie los: „Pff, du siehst echt scheiße aus!" Diese Bemerkung quittierte ich mit einem gespielt beleidigten Blick, wurde dann aber ganz still. Auch Alyssa hörte sofort zu lachen auf. „Hey, was ist denn los?", fragte sie. Daraufhin vergrub ich mein Gesicht in meinen Händen und grummelte Wörter, die ich selbst nicht verstand. „Meine Güte, wenn du weiterhin so nuschelst wird das heute nichts mehr!", wies Alyssa mich zurecht und zog meine Arme grob auseinander. Ich versuchte mich zu wehren und verzog mein Gesicht, aber es half nichts. Für Außenstehende musste das aussehen, als würde Alyssa mich sexuell belästigen. Als ich mich befreit hatte zog meine Beine an, umschlang sie mit meinen Armen und starrte auf den Boden. Ich musste sie nicht ansehen, um zu wissen, dass Alyssa gerade ihre Augenbrauen hochzog. Das war das internationale Zeichen für „Ich erwarte eine Antwort und wenn ich nicht sofort eine bekomme dann hat das Konsequenzen, Madame!". Im Augenwinkel bemerkte ich, wie sie ihre Arme verschränkte um ihre unausgesprochene Aussage zu unterstreichen. Ich ließ meinen Kopf auf die Knie sinken, seufzte und sagte nur ein Wort: „Ben." „Was?" „Ben!", rief ich und schaute sie aufgebracht an. Genau in diesem Moment klingelte es natürlich und alle Gespräche verstummten. Verständnislose und urteilende Blicke von allen Seiten. Ein toller Einstieg in diesen Tag.

all eyes on meWo Geschichten leben. Entdecke jetzt