Ich holte tief Luft und hob meine Hand zur Klingel. Das Haus war überwältigend - riesig eine Untertreibung. Damit hakte ich in meinem Kopf die Bezeichnung „reich und schön" zweimal ab - scheinbar traf beides auf Ben zu. Durch die Scheibe neben der Tür konnte ich eine Person auf mich zukommen sehen und ich strich noch ein letztes Mal mein babyblaues Kleid glatt. Aly hatte einen hervorragenden Geschmack. Wenn sie mich einkleidete, fühlte ich mich gleich viel selbstbewusster und besser.
Da ging auch schon die Tür auf und vor mir stand Ben. „Hey!" Mit einem strahlenden Lächeln und einem hellblauen Hemd, als hätten wir uns abgesprochen. Das merkte er auch gleich an, nachdem er mir ein Kompliment gemacht hatte, wie ich gut aussehe. Ich musste lächeln und er ließ mich hinein. Von innen wirkte das Haus noch viel größer als von außen und ich kam mir noch kleiner vor als ich sowieso schon war.
Überraschenderweise war ich gar nicht so aufgeregt, wie ich anfangs dachte, aber ich war mir sicher, dass das noch kommen würde.
Sein Zimmer war eine Mischung aus Sportpokalausstellung und Kleiderschrank, jeder freie Zentimeter war mit irgendeiner Auszeichnung vollgehängt oder einem Foto auf dem Siegertreppchen und der Rest bestand aus Schrank. „Ich seh' schon, gewinnen ist dein Ding!", scherzte ich und er erwiderte ironisch: „Naja, ich beabsichtige auch die Rolle abzustauben!" und verzog sein Gesicht zu einer Grimasse. Ich lachte und fragte, ob ich mich setzen dürfte. „Ja klar, brauchst doch nicht fragen, fühl' dich wie zu Hause. Willst du was trinken oder so?"
Während er mir ein Wasser holte, schaute ich mich noch weiter in seinem Zimmer um. Pokale für Fußball, Basketball, Handball, Hockey. Medaillen für Schwimmen, Radfahren, Leichtathletik. Ich war beeindruckt. Währenddessen hörte ich ihn zurückkommen. „Oh man, schau das lieber nicht an." Ich musste lachen. „Du stellst hier alle deine Erfolge so zur Schau und erwartest dann, dass ich sie mir nicht ansehe?" Beschämt schaute er zu Boden. „Hmm du hast recht, vielleicht ist es an der Zeit die endlich mal abzuhängen.", meinte er leise. Ich legte meinen Kopf schief. „Nein nein! So war das doch nicht gemeint. Ich meine, ich wusste, dass du extrem sportlich bist und so, aber das habe ich tatsächlich nicht erwartet. Das ist fast schon beängstigend!" Ich versuchte zu scherzen, aber scheinbar hatte ich damit einen wunden Punkt getroffen. Plötzlich war mir ganz heiß, ich biss mir auf die Lippen und versuchte abzulenken: „Hey, was hältst du davon, wenn wir jetzt anfangen? Mit was willst du loslegen? Singen, Tanzen, Spielen?" Da war sein Lächeln wieder. Während er mir einschenkte, antwortete er „Spielen!". Ich erkannte, wie sehr er zitterte, als er mir das Glas reichte. Ich bedankte mich, nahm einen kleinen Schluck und stellte es dann wieder ab. Ich hatte vermieden, seine Hand zu berühren, noch so einen wie gestern in der Schule konnte ich gerade nicht gebrauchen. Sonst wäre ich nämlich zu nichts mehr zu gebrauchen. „Lustig, dass du das vorschlägst, davor wollte ich mich nämlich so lange wie möglich drücken", lachte ich. „Das trifft sich gut, man muss immer das am meisten üben, was man noch nicht kann!", erklärte Ben mir und grinste mich an. Ich hatte ihn noch nie so über beide Ohren strahlen sehen und das machte mich irgendwie glücklich, auch wenn ich ihn doch eigentlich gar nicht kannte. Schließlich war das das erste Mal, dass wir wirklich so richtig miteinander redeten und Zeit verbrachten.
„Gut, also für das Casting haben wir ja nur ein paar Zeilen aus verschiedenen Stellen aus dem Skript, da ist der Großteil sowieso Monolog. Wir könnten damit anfangen, dass jeder seine Stellen erst einmal liest. Das mit dem auswendig lernen kommt dann ganz von allein.", meinte Ben. Ich schaute ihn fragend an. „Ist was? Also das ist natürlich nur ein Vorschlag, wir können es natürlich auch anders machen, wenn willst.", lenkte er verunsichert ein und runzelte seine Stirn. „Nein das hört sich gut an. Mir werfen sich bloß gerade ein paar Fragen auf und ich weiß nicht ob ich sie dir einfach stellen soll oder nicht.", sagte ich, ohne den Blickkontakt abzubrechen. Er schaute zu Boden und lachte kurz. „Frag einfach. Ob ich dir dann eine Antwort gebe oder nicht siehst du dann schon."
In meiner Brust war es ganz unruhig. Als würde da gerade jemand mit einer Rüttelplatte auf meiner Lunge arbeiten. Ich räusperte mich und spielte mit den Blättern in meiner Hand, auf denen mein Text stand. Komischerweise war ich plötzlich ganz ruhig. „Woher weißt du, wie man an sowas rangeht, aber viel wichtiger noch: Wieso machst du das überhaupt?", fragte ich und lehnte mich etwas in seine Richtung. „Was meinst du?" „Naja, das hier. Das Musical. Proben, mit mir. Wieso mit mir? Wann hast du überhaupt Zeit für sowas, so viele Pokale wie hier drin stehen müsstest du doch rund um die Uhr irgendwas trainieren!" Ich fuchtelte wild mit meinen Händen herum, um meine Fragen zu unterstreichen. „Sorry, das klang jetzt vielleicht blöd.", entschuldigte ich mich.
Er schaute immer noch in den Boden, lehnte sich dann am Bett an und zog seine Beine an die Brust. „Du musst dich nicht entschuldigen, sind ja alles berechtigte Fragen. Aber ich kann dir jetzt nicht alles beantworten. Viele der Pokale sind schon älter, mittlerweile mache ich nur noch Schwimmen und Leichtathletik. Da habe ich zwar auch ziemlich viel Training, aber es ist noch ein bisschen Zeit übrig. Und seitdem ich meinen Führerschein habe, kann ich manchmal zu Proben des Theaters fahren. Meine Eltern hätten glaube ich gerne, dass ich nach dem Abi Profisportler werde. Und das wollte ich auch, aber in letzter Zeit... ich weiß nicht. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich das schaffe ist ziemlich gering und ich will das eigentlich nicht auf mich nehmen, was da alles mit dranhängt - ständig weg von zu Hause sein, den Körper bis zum Limit bringen und oft auch noch darüber hinaus, die ständige Angst vor einem Karriereaus wegen einer Verletzung, und so weiter. Dazu kommt noch der psychische Druck. Klar, den hat man in anderen Berufen auch, aber andere Berufe haben vielleicht mehr Zukunft."
Nach dieser Aussage musste ich erst einmal schlucken. Krass, wie viele Gedanken er sich darüber gemacht hatte. „Und was ist ein Beruf mit Zukunft für dich?", fragte ich vorsichtig.
Er seufzte. „Ich weiß es nicht. Es gibt viele Sachen, die mich interessieren, aber festgelegt habe ich mich noch nicht." Er lachte reumütig. „Ich weiß auch gar nicht, wieso ich dir das alles erzähle, da hab' ich noch nie mit jemandem drüber geredet. Ist ja auch alles gar nicht so wichtig, fangen wir einfach an." Er wirkte so niedergeschlagen. Scheinbar war das der wunde Punkt, in den ich vorhin gleich zum Anfang mit Pfefferspray hineingesprüht hatte.
Ich wusste, dass ich besser nichts mehr dazu sagen sollte, aber es war mir wichtig, dass er wusste, dass ich ihm gerne zuhörte und dass er mit seinen Sorgen nicht allein ist. „Ben." Während er erzählt hatte, hatte er mit seinem Finger Muster in den Teppich gemalt, aber als ich seinen Namen sagte, schaute er mich an. Selbst wenn ich gewollt hätte, hätte ich meinen Blick nicht abwenden können. Seine traurigen Augen hielten mich fest und flüsterten mir zu, was ich sagen sollte. „Das ist wichtig. Mir ist das wichtig. Und deinen Eltern ist das auch wichtig. Und es ist okay, wenn du kein Sportler werden willst. Und es ist auch okay, wenn du noch nicht weißt, was du machen willst. Aber du musst drüber reden. Egal mit wem. Und irgendwann mit deinen Eltern."
Eine ganze Weile saßen wir einfach nur so da und es war okay, dass niemand etwas sagte. Ich hatte das Gefühl, Ben brauchte das gerade. Irgendwann schlug er die Augen nieder und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Er hielt kurz inne und fragte dann: „Willst du anfangen?"
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all eyes on me
ChickLitEmilia hat tierische Angst davor, vor anderen Leuten zu singen. Trotzdem spricht sie für ein Musical an ihrer Schule vor, schließlich möchte sie neben ihrem Schwarm Ben die Hauptrolle spielen. Ihr Kunstlehrer hilft ihr, ihre Angst zu überwinden, do...