Von Apnoetauchen und Krankenhauszimmern

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Glücklicherweise war die erste Stunde Mathe schon fast vorbei, als wir zurückkamen. So musste ich mich nur noch durch eine weitere quälen, obwohl ich Mathe sonst schon gerne mochte. Ich fieberte auf die Pause hin und sprang als erste auf, als es klingelte. Am Ärmel zog ich Aly aus dem Raum, die Schwierigkeiten hatte, alle ihre Stifte einzupacken, weil ich sie so bedrängte. Ich wollte einfach raus hier. Wir schnappten uns einen Tisch in der Aula und ich holte mir am Kiosk mein Frühstück. Genüsslich biss ich in meinen Apfel, aber als ich im Augenwinkel Herr Visnes die Aula betreten sah, blieb mir der Bissen im Halse stecken. Ich wollte doch Cinderella sein und nicht Schneewittchen! Hustend versuchte ich mich irgendwie zu verstecken, als letzte Lösung fiel mir ein, so zu tun, als würde ich meine Schnürsenkel binden. Ich bückte mich hinab und wollte die Schleife auf- und wieder zu machen. Blöd nur, dass ich nicht mehr meine Sneakers trug, sondern eben diese dunkelbraunen Wildlederstiefel. Entnervt stöhnte ich die Schuhe an, blieb aber unten, um den Blickkontakt mit meinem Kunstlehrer zu vermeiden. „Guten Morgen Herr Visnes!", hörte ich Aly rufen und ich hätte ihr am liebsten eine gescheuert. „Spinnst du?!", fuhr ich sie an, wohlwissend, dass sie keine Ahnung hatte, wieso sie nicht ihren Lieblingslehrer grüßen sollte, und richtete mich ruckartig wieder auf, stoß mir dabei natürlich geräuschvoll den Kopf an der Tischkante und wäre am liebsten gleich wieder zurück in den Fundus gekrochen. „Oh nein Lia! Hast du dir wehgetan?!", rief sie aus, was mich noch wütender machte, aber nicht auf sie, sondern auf mich und auf den Visnes und einfach auf alles. In mir brodelte es und zu allem Unglück stoppte er jetzt auch noch und kam auf uns zu. Ich dachte an gestern Abend, als ich meinte, dass es nicht noch schlimmer werden könnte - jetzt war es schlimmer. Ich glaube, ich hatte gerade ein Talent von mir entdeckt - nicht so etwas wie Apnoetauchen oder Jonglieren oder Wolkenkratzer entwerfen - nein: sich möglichst blöd anstellen, um möglichst viel Peinlichkeit auf einmal in einem Moment unterzubringen. Ist doch auch ein Talent, oder?

Mein Schädel pochte und ich hielt mir die Stelle. Das würde eine dicke Beule geben. Je näher unser Lehrer kam, desto mehr fiel mir auf, wie furchtbar er heute aussah. Die sonst so perfekt unperfekt gestylten Haare hingen in losen Strähnen in sein Gesicht, sein Oberteil und die Hose waren faltig und er hatte tiefe Ringe unter den Augen. Mit einer fahrigen Bewegung fuhr er sich durch die Haare. „Alles in Ordnung, Lia? Brauchst du einen Kühlbeutel?", fragte er besorgt, aber ich erwidert nur auf die vollgekritzelte Tischplatte starrend: „Nein danke, alles Ordnung, ich meine in Ordnung." Man könnte meinen, ich hätte einen Witz machen wollen, aber ich stellte mich wirklich einfach nur blöd an. Aly schaute zwischen ihm und mir hinterher und verstand wahrscheinlich die Welt nicht mehr. Er kratzte sich am Kinn und sagte nur noch: „Okay, wie du meinst. Dann bis später.", lächelte Aly kurz zu und setzte seinen Weg zum Lehrerzimmer fort. Meine beste Freundin schaute ihm hinterher und seufzte, ich starrte weiterhin die wahnsinnig interessante Tischplatte an. „Was war denn mit dem los? Hat der gekifft oder meinst du der war gestern Abend beim saufen?", kicherte sie. Als sie aber bemerkte, dass ich gerade gar nicht in der Stimmung war, hörte sie sofort auf. Ich spürte, dass sie fast explodierte vor Neugier, aber ich hatte gerade überhaupt keine Lust, die Ereignisse des gestrigen Tages auszuführen. Stattdessen legte ich meinen immer noch pochenden Kopf auf ihrer Schulter ab und schloss die Augen. Einen Kühlbeutel hätte ich schon gebrauchen können.

Aber nicht nur mein Kopf, auch mein restlicher Körper, mir war wahnsinnig heiß geworden und meine Hände waren ganz schwitzig. Das war sicher nur der Schock über den Schmerz. Wenigstens war dieser Schultag bald vorbei. Nur noch vier Stunden und ich konnte endlich nach Hause. Aber stopp - was hatte er gemeint - „bis später"? Mein Kopf schnellte in die Senkrechte und schlug dabei mit Aly zusammen, die ihren auf meinen gebettet hatte. „Aua, was machst du denn? Ich mag dich echt gerne, aber auf ein gemeinsames Zimmer im Krankenhaus hab ich echt keine Lust!", beschwerte sie sich. „Was haben wir jetzt gleich?", wollte ich ungeduldig wissen. „Hä? Englisch, wieso?", erwiderte Aly verwirrt. Mist, da war ich mit meinem Auftritt vorher wohl zwei Schulstunden zu früh, aber das ist ja jetzt auch egal. „Und danach?" „Kunst, wieso?" Ich stöhnte. Das konnte doch wirklich nicht wahr sein. Wieso ausgerechnet heute? Ich ließ meinen Kopf nach hinten an die Wand fallen. Genau auf die Beule. Ich stöhnte noch lauter. Mein armer Kopf musste heute wirklich ganz schön viel aushalten. „Was ist denn das Problem?", fragte Aly. „Ach nichts. Ich liebe Kunst ja, aber heute hab ich einfach gar keine Lust drauf. Vor allem nicht mit Kopfweh.", entgegnete ich ausweichend. Das entsprach so ziemlich der Wahrheit. Ich wollte sie nicht noch mehr anlügen. Zwar hatte ich schon Lust auf Kunst, aber eben nicht auf den Lehrer, aber das ist ja eigentlich das gleiche.

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