Ich meldete mich kein einziges Mal und vermied es tunlichst, auch nur meinen Kopf zu heben, geschweige denn Herr Visnes anzuschauen. Ich wollte diese Stunden einfach nur absitzen, mein Zeug packen und mich dann möglichst schnell aus dem Staub machen. Und um Gottes Willen auf gar keinen Fall mehr mit ihm über das Musical reden. Oder auch nur über irgendwas. Wenigstens war er so nett und ließ mich auch in Ruhe und nahm mich nicht bei irgendwelchen Fragen dran oder so. Dafür war Alyssa umso eifriger dabei.
Um die Zeit wenigstens einigermaßen sinnvoll zu nutzen, lieh ich mir ein Blockblatt von Aly und machte eine Todo-Liste, was vor dem Treffen mit Ben morgen noch erledigt werden musste: Duschen, Haare waschen, Text üben, Singen üben, Outfit, etc. Aber das würden wir später sicher sowieso noch einmal genauestens durchexerzieren. In meiner eigenen kleinen idealen Welt in meinem jetzt wieder schmerzenden Kopf malte ich mir schon aus, wie Ben und ich zusammen auf der Bühne stehen würden und wir würden zusammen singen und tanzen und zum Schluss würde er mich küssen und danach würden wir zusammenkommen und dann irgendwann Kinder haben und ein Haus und -
Die Klingel riss mich aus der utopischen Vorstellung meines Lebens und brachte mich zurück auf den Boden der Tatsachen. Wie es freitags nach der sechsten Stunde eben so war, hatten es alle besonders eilig nach Hause zu kommen und fast alle hatten sich schon ins Wochenende verabschiedet, nur Aly, der Visnes und ich waren noch im Klassenzimmer. Er saß wieder in sich zusammengesunken an seinem Tisch und tat so, als würde er sich seiner Tabelle widmen. Schnell stand ich auf und sein Blick richtete sich auf mich. Er holte Luft und setzte an, etwas zu sagen, aber ich kam ihm zuvor, wünschte ihm ein schönes Wochenende und versuchte ihm mit einem eindringlichen Blick zu verstehen zu geben, dass er doch um Himmels Willen nichts wegen meiner Sachen sagen sollte. Er war aber scheinbar etwas begriffsstutzig, hielt uns auf und verschwand daraufhin kurz im Materiallager.
Ich verdrehte die Augen und Aly blickte mich fragend an. Als er wieder auftauchte, rief ich gleich ganz überschwänglich: „Ach, Herr Visnes, vielen Dank, dass Sie mein Zeug gefunden haben, ich habe es gestern in der Schule vergessen und dachte schon, es hat jemand geklaut!" Gleichzeitig wackelte ich mit den Augenbrauen und versuchte ihn mit meinem Gesichtsausdruck dazu zu bringen, mitzuspielen. Scheinbar wirkte diese subtile Mimik aber eher, als hätte ich mein Gesicht zu einer Grimasse verzogen, weil ich mir den kleinen Zeh angehauen habe, letztendlich verstand er aber und erwiderte: „Oh ja, ich habe es äh... in der Aula gefunden und dann deinen Namen im Terminplaner gesehen, da hab ich es für dich aufbewahrt. Weil du ja heute sowieso bei mir im Unterricht bist...", meinte er und streckte nach kurzem Zögern seine Hand mit meinem Rucksack und Ordner aus.
Unsere Hände berührten sich nur minimal, als ich meine Sachen entgegennahm, aber es war, als hätte er mir einen Stromschlag verpasst. Trotzdem wollte ich die Hand nicht wegziehen und wir verharrten ein bisschen zu lang in dieser seltsamen Position. Überrascht schaute ich erst unsere Hände an und dann ihn. Ich weiß nicht, ob es ihm ähnlich ging, aber er tat das gleiche. Dann ließ er auf einmal los und ich schulterte etwas durcheinander meinen Rucksack. Er musterte noch kurz seine Hände, fuhr sich hastig durch die Haare und vergrub sie dann in seinen Hosentaschen.
„Also ein schönes Wochenende euch beiden. Und dir gute Besserung mit deinem Kopf, Emilia!", wünschte er. Euch beiden? Ich drehte mich um. Aly war ja auch noch da! Ich hatte alles um mich herum vergessen. „Ähm ja, danke, Ihnen auch", erwiderte ich zerstreut. Auch Aly verabschiedete sich und setzte sich in Richtung Treppen in Bewegung. Bevor ich ihr folgte, drehte ich mich noch einmal zu Herr Visnes um und wir schauten uns an. Kurz, dann wandte ich mich ab und ging.
Ich war komplett verwirrt. Was war das? Wieso hatte ich dieses wahnsinnige Gefühl? Und hatte er das auch? Oder habe ich mir das gerade nur eingebildet? Mein Körper war immer noch wie elektrisiert und ich betrachtete ungläubig meine Hand. Meine kleine, jetzt nicht mehr ganz so runzelig wirkende Hand. Aly wartete lachend am Treppenabsatz auf mich. „Alles gut bei dir? Du wirkst ein bisschen verstört!" „Ja klar, ich habe wahrscheinlich die Tatsache noch nicht ganz verarbeitet, dass ich morgen mit Ben ein Date habe.", redete ich mich heraus. Und das stimmte ja auch irgendwie.
„Dann kümmern wir uns da doch besser mal drum!", rief sie und rannte die Treppen hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Da konnte ich nicht mithalten und folgte ihr deshalb wesentlich langsamer und schmunzelte über ihre Begeisterung, wenn es ums Aufhübschen ging. Nach dem ersten Absatz pausierte ich kurz, denn was diese kurze Berührung von Herr Visnes ausgemacht hatte, hatte ich wirklich unterschätzt. Meine Knie waren wieder ganz wacklig und ich befürchtete schon, dass ich die restlichen Treppen nicht mehr schaffen würde, aber irgendwie beflügelte mich dieser Vorfall auch - sehr - und ich schwebte regelrecht in den zweiten Stock hinauf.
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all eyes on me
ChickLitEmilia hat tierische Angst davor, vor anderen Leuten zu singen. Trotzdem spricht sie für ein Musical an ihrer Schule vor, schließlich möchte sie neben ihrem Schwarm Ben die Hauptrolle spielen. Ihr Kunstlehrer hilft ihr, ihre Angst zu überwinden, do...