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John

„Ich bin gestolpert."

Ich stand inmitten ihres Flures und sah entsetzt in ihr Gesicht. „Du bist gestolpert?", fragte ich skeptisch und sie bejahte ihre Aussage. Wollte sie mich für dumm verkaufen? Ich lief an ihr vorbei und sah mich in ihrer Wohnung um.

„Was machst du?" Sie folgte mir und als ich mich umdrehte konnte ich erkennen, dass Brooke leicht humpelte.

„Wo ist er?" Aufgebracht durchsuchte ich beinahe jeden Raum. Sie war zu langsam und konnte mich nicht in meinem Vorhaben stoppen.

Irgendwann gab sie auf und blieb einfach stehen. „Wen meinst du?"

„Lüge mich nicht an. Wo ist er?" Erst als ich gesprochen hatte, wurde mir bewusst, wie aggressiv ich mich verhielt, denn sie zuckte vor mir zusammen. Das tat sie nie. Dafür war Brooke viel zu selbstbewusst.

„Ich habe dir bereits gesagt, dass ich gestolpert bin. Vermutlich war es ein Glas Wein zu viel."

„Und da bist du direkt in eine Faust gefallen oder was?"

Entsetzt schnappte sie nach Luft und wandte ihren Blick ab. „Ich war einfach ungeschickt."

„Ich kenne diese Art von Verletzung." So behutsam und vorsichtig wie möglich sprach ich mit ihr. „Es ist nicht das erste Mal, dass ich eine Frau sehe, die so zugerichtet ist." Niemals würde ich den Anblick meiner Schwester vergessen, als das Monster sie ins Krankenhaus geprügelt hatte. „Ist er hier?"

Brooke schüttelte ihren Kopf und begann zu weinen. „Nein", japste sie und schlang schützend ihre Arme um sich.

„Aber er weiß, dass du hier wohnst."

Sie nickte und weinte weiter. „Ich habe nichts falsch gemacht."

Ich trat einen Schritt auf sie zu. Auch wenn wir uns nicht sonderlich gut verstanden, musste ich dem Drang widerstehen, sie zu berühren. Es würde vermutlich eher kontraproduktiv wirken. „Hat ein Arzt sich deine Verletzungen angesehen?"

Erneut schüttelte sie ihren Kopf und meinte, dass sie ihre Wohnung heute nicht verlassen hätte. Brooke war eindeutig verängstigt.

„Ich möchte, dass du einige Sachen packst."

Ihr tränenüberströmtes Gesicht sah mich an. „Ich will nicht ins Krankenhaus."

Natürlich wollte sie nicht dahin. Keine Frau will, dass man sie in einem solchen Zustand sieht. Aber es war durchaus möglich, dass sie schwerer verletzt war als angenommen.

„Es sind Ärzte und diese unterliegen der Schweigepflicht", versuchte ich sie zu beruhigen.

„Aber die Schwestern werden trotzdem tratschen."

Warum musste diese Frau so stur sein und konnte nicht einmal machen, was man ihr sagte?

„Willst du, dass ich mir deine Verletzungen ansehe?", schlug ich vor und kassierte einen Blick, der Entsetzen und Panik widerspiegelte. „Wenn du es nicht willst, könnte ich meinen Vater anrufen. Er würde es auch machen."

Beschämt sah sie zu Boden und nuschelte, dass sie einige Sachen fürs Krankenhaus packen würde. Mein Vorschlag trug Früchte. Nie im Leben hätte ich sie untersucht. Nicht, dass ich Brooke abstoßend fand. Sie war schon hübsch anzusehen, aber ihr Sturkopf und die Tatsache, dass sie eine Angestellte in unserer Firma war, galt als eine Grenze, welche ich nie überschreiten würde.

„Während du packst, werde ich im Krankenhaus anrufen und uns anmelden. Damit umgehen wir hoffentlich eine Wartezeit."

„Du musst das nicht machen. Ich kann auch alleine fahren", rief sie aus einem der Nebenräume. Vermutlich handelte es sich dabei um ihr Schlafzimmer.

Ich hatte mein Handy bereits am Ohr und wartete darauf, dass der Anruf entgegengenommen werden würde. „Mit deinem Bein fährst du ganz sicher nicht selbst."

„Ich bin kein kleines Kind!" Der Trotz in ihrer Stimme war nicht zu überhören und ließ mich schmunzeln.

„Dein Augenrollen kann ich bis hier hören." Kaum hatte ich Brooke geantwortet, wurde mein Anruf entgegengenommen und ich meldete unser Kommen in der Privatklinik an, welche damals bereits Thalia behandelt hatte. Seit dem Vorfall spielte mein Dad regelmäßig Golf mit dem behandelnden Oberarzt. Hoffentlich würde er auch Brooke behandeln.

Das Telefonat war recht kurz und gerade in dem Moment, als ich es beendet hatte, kam Brooke mit einer kleinen Tasche zurück.

„Gib sie mir", forderte ich sie auf und nahm ihr die Tasche ab. „Mein Wagen steht direkt vor der Tür. Wir brauchen etwa eine Stunde."

Ich folgte ihr nach draußen und wartete, bis sie ihre Wohnungstür verschlossen hatte. Vorsichtig sah sie sich im Flur um und, auch wenn ich sie sonst mit ihrem Verhalten aufziehen würde, verstand ich ihre Furcht. Brooke humpelte neben mir her und hatte sichtliche Probleme damit, ihre Schmerzen zu verbergen. Sollte ich diesen Mistkerl in die Hände bekommen würde ich ihm schreckliche Dinge antun.

„Soll ich jemanden für dich anrufen?"

Sie schüttelte ihren Kopf, als sie sich vorsichtig auf den Beifahrersitz meines Wagens setzte. „Nicht nötig."

„Es würde mir keine Umstände bereiten", sprach ich, als ich auf meinem Sitz Platz nahm.

„Es ist nicht nötig, weil da niemand ist", flüsterte Brooke. „Ich bin in einem Trailerpark aufgewachsen. Meinen Vater kenne ich nicht und meine Mutter ist vor einigen Jahren gestorben."

„Das tut mir leid."

Sie schüttelte ihren Kopf. „Muss es nicht. Sie war nie eine sonderlich gute Mutter und hat sich ins Grab getrunken." Still hörte ich ihr zu, während sie sprach. „Vermutlich liegt es mir im Blut, dass ich an den falschen Mann geraten bin."

„Für das, was geschehen ist, kann man dich nicht verantwortlich machen", versuchte ich ihr klarzumachen.

„Ich habe schon an mir gezweifelt. Er war in mancher Hinsicht etwas distanziert. Abgesehen von dem hier", sie zeigte auf ihr Gesicht, „hat er mich nie angefasst."

„Auch auf die Gefahr hin, dass du mich gleich steinigst. Sei froh. Stell dir vor, es wäre erst in einigen Jahren herausgekommen und ihr wärt verheiratet oder hättet Kinder. Das würde es schon schwerer machen."

„Da hast du wohl recht." Brooke sah aus dem Fenster, während wir fuhren. „In welches Krankenhaus bringst du mich?"

„In eine Privatklinik. Sie sind sehr diskret und du wirst von nur einem Arzt und einer Schwester behandelt werden. Damit wird es für dich wohl angenehmer."

Sie wandte ihren Kopf vom Fenster ab und sah mich an. „Aber das kann ich mir nicht leisten. Meine Versicherung kommt dafür nicht auf."

„Unsere Firma kommt dafür auf", sprach ich ruhig. „Mein Vater wird damit kein Problem haben."

„Du wirst es ihm sagen?"

„Ich muss. Er wird fragen, wofür das Geld verwendet wurde und wenn ich es ihm erkläre, wird er Verständnis dafür haben."

„Warum bist du dir da so sicher?"

„Weil wir vor Jahren in einer ähnlichen Situation waren." Brooke fragte nicht weiter nach und wir setzten unsere Fahrt schweigend fort.

Die Assistentin Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt