Roland Narcisse ist schon älter (ich schätze ihn auf Ende fünfzig oder Anfang sechzig), aber noch gut in Form. Er erwartet mich in seiner Privatloge, die mit einem weinroten Vorhang von der Galerie abgetrennt ist.
»Mademoiselle Pommier«, sagt er und fasst nach meiner Hand, um mir einen Kuss über den Handrücken zu hauchen. Seine Haare sind silbergrau und streng zurückgekämmt, was seine hohe Stirn und den zurückweichenden Haaransatz betont. Davon abgesehen ist er ein hochgewachsener, schlanker Mann mit einem schmalen, sonnengebräunten Gesicht, einer kantigen Adlernase, buschigen Brauen und fast farblosen Augen. Er trägt einen schwarzen Frack, darunter ein weißes Hemd mit hohem Kragen und eine gestreifte Satinweste mit Perlmuttknöpfen. »Das Kleid steht Ihnen ausgezeichnet, wenn ich das sagen darf.«
»Ich erlaube es Ihnen. Ausnahmsweise«, erwidere ich mit einem breiten Lächeln. »Es ist mir eine Ehre, Sie endlich kennenzulernen, Monsieur Narcisse. Ich habe schon viel von Ihnen gehört.«
»Ach ja?«, fragt Narcisse, während er mir einen der zwei Polstersessel anbietet. »Hoffentlich nur Gutes.«
»Ich denke schon. Jedenfalls ist das Wort Koryphäe gefallen.«
Narcisse schmunzelte. »Jetzt schmeicheln Sie mir.«
»Sie machen es mir leicht«, entgegne ich und nehme auf dem angebotenen Sessel Platz, wobei ich sorgsam darauf achte, das teure Kleid nicht zu verknittern.
Von der Loge aus habe ich einen perfekten Blick auf die Bühne, die hinter einem roten Vorhang mit dem Jousan-Symbol für Glück und Wohlstand verborgen liegt. Im Zuschauerraum herrscht emsiges Gedränge. Selten habe ich so viele gut gekleidete Menschen auf einem Haufen gesehen. Herren, die Frack und Zylinder tragen. Damen in voluminösen Kleidern und mit dicken Juwelen um den Hals.
Ich komme aus bescheidenen Verhältnissen und obwohl ich inzwischen genug verdiene, um keinen Hunger leiden zu müssen, bin ich im Kopf noch immer arm. Manchmal muss ich mich regelrecht daran erinnern, dass ich Geld besitze. Nicht viel, aber genug, um nicht darüber nachdenken zu müssen, ob ich mir eine Schachtel Pralinen leisten kann oder nicht. Wäre ich nicht ständig auf der Flucht, könnte ich mir vielleicht sogar etwas aufbauen und wohlhabend werden. Doch das ist ein ferner Traum.
»Was für ein Stück sehen wir uns an?«, will ich wissen.
Narcisse antwortet mit einer Gegenfrage. »Waren Sie schon einmal hier?«
»Ich?« Beinahe hätte ich laut gelacht. »Nein. Ich bin zum ersten Mal in Tournesol.«
»Ah«, macht Narcisse, als würde ihm dadurch einiges klar werden. »Nun, das Lou-Tan-Theater hat eine lange Tradition. Angeblich wurde es von den ersten Joumin gegründet, die aus Jouyan nach Ostragon geflüchtet sind. Sie müssen wissen, im Norden herrschte damals – so circa 1340 – eine schreckliche Hungersnot, die unzählige Menschenleben gefordert hat. Viele verzweifelte Joumin haben sich daraufhin an die beschwerliche Wanderung über die Teppichberge gemacht, aber nur sehr wenige haben es auch geschafft. Von den Gründern dieses Theaters heißt es, sie wären über das Meer geflohen und hätten auf ihrem Weg Westragon und das gefährliche Kap Doorn umrundet. Dementsprechend soll ihr allererstes Bühnenstück von der Reise über das Meer gehandelt haben, von der tückischen See, von Ungeheuern, Sirenen, Meuterei und Wahnsinn.«
Wenn ich nicht schon wüsste, dass mein Kunde früher Professor für Geschichte gewesen ist, spätestens jetzt hätte ich es wohl geahnt. Doch die kleine Abhandlung stört mich nicht. Narcisse ist ein angenehmer Erzähler. Seine sonore Stimme und sein Gespür für Pausen und Tonlagenwechsel erinnern mich an meinen Lieblingsradiosprecher Paul Ispin. Wann immer er auf Sendung ist, klebe ich förmlich am Rundfunkempfänger.
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Drudenkuss
FantasyElisabeth Pommier leidet unter einem Drudenfluch. Das bedeutet, sie muss jede Nacht ein schlafendes Opfer heimsuchen, um es zu drücken. Sie macht das Beste aus ihrer Beeinträchtigung und nutzt die resultierenden Albträume ihrer Opfer, um sich als Sc...