Das Romarin-Anwesen brennt vollständig nieder.
Bis tief in die Nacht kann ich es von der Dienstbotenunterkunft, die sich am östlichen Ende des Grundstücks befindet, glimmen und schwelen sehen.
Obwohl ich nur zwei Nächte darin verbracht habe, spüre ich den Verlust in jedem Knochen.
Doch viel schwerer wiegt natürlich, was mit Theo und Seymour geschehen ist.
Theo hat einige schwere Verbrennungen davongetragen und weil wir ihn nicht in ein Krankenhaus bringen können, müssen wir uns selbst um ihn kümmern und dafür sorgen, dass er die Nacht übersteht. Mae, die sich mit Verbrennungen auskennt, ist jedoch optimistisch, dass er überleben wird. Was Seymour angeht, sieht es nicht so rosig aus.
Widerwillig werfe ich einen Blick auf die Botschaft, die Isabel am Abend im Briefkasten des Romarin-Anwesens gefunden hat. Darin werden wir dazu aufgefordert, morgen Abend zur alten Königsburg zu kommen und die Baupläne aus dem Geldhaus mitzubringen. Andernfalls werde Seymour noch vor Sonnenaufgang sterben. Wie um die Ernsthaftigkeit der Forderung zu belegen, haben wir im Briefkasten auch noch Seymours Notizbuch gefunden. Blutverschmiert.
Da es keinen Absender gibt, können wir nur vermuten, dass die Botschaft von Julien Faucon stammt. Es wäre jedoch auch vollkommen egal gewesen. Für uns alle hat sofort festgestanden, dass wir Seymour nicht seinem Schicksal überlassen werden. Étienne hat noch ein paar Mal versucht, Mae und mich davon abzubringen, aber unser Entschluss steht felsenfest.
Mir ist jedoch bewusst, dass es sich höchstwahrscheinlich um ein Himmelfahrtskommando handelt. Wenn Faucon dahintersteckt, ist Seymour vielleicht schon tot. Und wir werden es in weniger als 24 Stunden auch sein. Noch vor ein paar Tagen hätte ich bei dieser Aussicht vermutlich schleunigst das Weite gesucht. Fast mein ganzes Leben lang musste ich mich nur um mich selbst kümmern. Doch jetzt habe ich sowas wie eine Familie. Es ist vielleicht albern, weil ich Étienne und seine Freunde erst seit ein paar Tagen kenne, aber die Zeiten sind hart und als Verfluchte bekommt man nicht viele Chancen auf ein gutes Leben. Mit Étienne könnte ich mich niederlassen. Ich müsste nicht mehr ruhelos umherziehen, sondern könnte endlich irgendwo meinen Frieden finden. Und ich weiß, wenn ich jetzt weglaufe, werde ich es bis an mein Lebensende tun müssen. Schon allein, weil Faucon mich jagen würde.
Ich habe die richtige Entscheidung getroffen. Da bin ich mir sicher.
Und trotzdem empfinde ich bei der Aussicht auf das, was uns morgen Abend erwartet, eine quälende Unruhe, die sich immer wieder zu kurzen Momenten der Panik steigert. Ich will nicht sterben. Ganz egal, ob es die richtige Entscheidung ist oder nicht. Ganz egal, wessen Leben ich damit retten kann. Ich will einfach noch nicht sterben.
Vor Jahren habe ich mir mal geschworen, dass ich überleben würde. Seitdem habe ich jeden einzelnen Tag gekämpft, um am Leben zu bleiben. Und das Einzige, das mich heute noch an diesen Moment erinnert, ist der Duft von Orangen.
Soll das alles umsonst gewesen sein?
»Hey, Betty ...«
Ich wende mich vom Fenster ab und entdecke Étienne, der im Türrahmen lehnt, die Ärmel hochgekrempelt und die Arme vor der Brust verschränkt hat.
»Hey ...«, erwidere ich. »Wie geht es Theo?«
Étienne nickt langsam. »Er ist aufgewacht und hat uns gleich einen Vortrag gehalten.«
»Worüber?«
»Darüber, dass er bereits seit Jahren die Brandschutzvorrichtungen im Haus bemängelt hat.«
Ich muss unwillkürlich lächeln. »Und?«
»Er hat natürlich Recht«, seufzt Étienne. »Aber das Anwesen ist das Haus meines Vaters und ich wollte nichts daran verändern.« Er zuckt mit den Schultern. »Das hab ich nun davon. Zurück in dem Gemäuer, in dem ich aufgewachsen bin.«
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Drudenkuss
FantasyElisabeth Pommier leidet unter einem Drudenfluch. Das bedeutet, sie muss jede Nacht ein schlafendes Opfer heimsuchen, um es zu drücken. Sie macht das Beste aus ihrer Beeinträchtigung und nutzt die resultierenden Albträume ihrer Opfer, um sich als Sc...