38) Lügengebilde

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Langsam fange ich an, Julien Faucon von den Dingen zu erzählen, die ich von Narcisse gehört und in seinem Albtraum gesehen habe. Ein letzter Rest Verstand, den ich in meinem Zustand erreichen kann, sagt mir, dass ich irgendwie Zeit schinden muss. Vielleicht findet Étienne noch einen Ausweg oder Seymour kommt, um uns zu retten.

Mit diesen hoffnungsvollen Gedanken strecke ich meine Erzählung so gut ich kann, doch es hilft nichts. Wir sind auf uns alleine gestellt. Und mich verlassen sowohl die Kraft als auch die Wörter.

Schneller als erhofft gelange ich zum Ende – zu dem Moment, in dem die Maschine erscheint. Ich beschreibe Faucon ihre metallische Hülle, die Knöpfe und Hebel, sowie den bronzenen Trichter. Dann berichte ich ihm, wie der Mann in der Galauniform das Baby über den Trichter gehalten und ihm mit einem krummen Messer den Bauch aufgeschlitzt hat.

Erst in diesem Moment fallen mir die Parallelen zu dem auf, was Faucon mit Narcisse gemacht hat. Meine Schultern sacken nach vorne. Wie eine Marionette mit durchtrennten Fäden falle ich in mich zusammen.

Zu der grausamen Wucht der Erkenntnis gesellt sich eine trügerische Erleichterung. Es ist vorbei. Was als Nächstes passiert, liegt nicht mehr in meiner Hand. Ich muss nicht mehr weglaufen. Nicht mehr kämpfen. Nicht mehr überleben.

Vorsichtig hebe ich den Blick und spähe über den niedrigen Sofatisch zu Étienne. Er sitzt auf der Kante des Sessels, die Kiefer zusammengepresst und jeder Muskel seines Körpers angespannt. Ich kann förmlich sehen, wie das Blut hinter seinen Schläfen pulsiert.

Mein Blick wandert weiter zu Faucon, der vollkommen ruhig wirkt. Seine Augen sind halb geschlossen und es sieht aus, als würde er sich das Gesagte noch einmal durch den Kopf gehen lassen. »Mademoiselle Pommier ...«, sagt er schließlich. »Wie sicher sind Sie sich mit dem, was Sie in diesem Traum gesehen haben?«

»Ich weiß, was ich gesehen habe«, erwidere ich.

»Der Mann, den Sie mir beschrieben haben ...« Faucon öffnet seine Uniformjacke und zieht ein flaches Portemonnaie heraus. Der Anblick schockiert mich aus irgendeinem Grund. Ich hätte nicht gedacht, dass jemand wie der Capitaine so etwas Banales wie ein Portemonnaie besitzt. Er klappt die Brieftasche auf, zieht einen 100-Rags-Schein heraus und hält ihn mir hin. »... war das dieser Herr?«

Ich beuge mich vor, um besser sehen zu können. Dabei habe ich 100-Rags-Scheine schon oft gesehen. Vielleicht ist mir der Mann in Narcisse' Traum deshalb so bekannt vorgekommen. Schließlich schmückt sein Antlitz unverkennbar das Geld, mit dem ich jeden Tag zu tun habe. Kein Zweifel. Das ist er, der korpulente Mann mit dem Schnauzbart und der altmodischen Uniform. »König Lyonel Belladone«, murmele ich.

Im Grunde habe ich das ja schon vermutet, aber es ist noch etwas Anderes, es auch wirklich zu wissen.

Faucon zieht den Geldschein wieder zurück und nickt bedächtig.

»Er hat diese Maschine gegen die Elfen eingesetzt.«

»Wie können Sie sich da so sicher sein?«, fragt Faucon.

Ich seufze. »Sie verstehen das nicht ... ich habe Erfahrung mit Träumen. Natürlich ist nicht alles in diesem Traum so passiert, wie ich es gesehen habe, aber in jedem Traum gibt es eine zugrundeliegende Wahrheit.«

In diesem Moment schnellt Faucon vor, packt mich an der Kehle und drückt mich in die Rückenlehne des Sessels. Das Herz springt mir in den Hals. Instinktiv reiße ich die Hände hoch und umklammere sein Handgelenk, doch sein Griff ist zu stark, um ihn abzuschütteln. Durch das Rauschen des Blutes in meinen Ohren kann ich Étienne protestieren hören. Faucon ignoriert ihn und beugt sich über mich, bis seine Lippen ganz nahe an meinem Ohr sind. »Und was ist die zugrundeliegende Wahrheit dieses Traumes, Mademoiselle Pommier?«

DrudenkussWo Geschichten leben. Entdecke jetzt