35) Nicht auflegen!

98 26 6
                                    

Onkel Raji und Tammi durchsuchen den halben Laden nach der Adresse von Andrea Feige. Allerdings ohne Erfolg.

»Ich verstehe das nicht ...«, murmelt Onkel Raji.

Damit ist er aber wohl so ziemlich alleine, denn zumindest ich verstehe sehr gut, wieso er in dieser Müllhalde nichts finden kann.

»Kannst du die Adresse irgendwie herausfinden?«, fragt Étienne, während er den feuchten Lappen auf seine Platzwunde presst.

»Natürlich kann ich das.« Onkel Raji klingt gekränkt. »Bis heute Abend kann ich dir die Namen ihrer Haustiere sagen.«

»So viel Zeit haben wir nur leider nicht«, brummt Seymour, der mit verschränkten Armen am halb geöffneten Tor steht und die Gasse vor dem Laden im Auge behält. »Normalerweise halten die Gendarmen sich von Jouyan-sin fern, aber das da-« Er deutet auf irgendetwas außerhalb meines Sichtfelds und ich kann nur vermuten, dass er die pechschwarze Rauchsäule meint, die seit etwa zwanzig Minuten vom Joumin-Geldhaus in den Mittagshimmel steigt. »-können auch sie nicht ignorieren. Vermutlich wimmelt es hier bald von Gesetzeshütern.«

»Gibt es vielleicht noch einen anderen Weg?«, frage ich. Dabei wandern meine Gedanken zurück zu meinem Treffen mit Narcisse. Damals habe ich Andrea kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Ich weiß noch, dass sie einen Stapel Abschlussarbeiten bei sich hatte. Und ich erinnere mich daran, dass sie von einer Demoiselle und einem Fernsprecher gesprochen hat. Das bringt mich auf eine Idee. »Narcisse war ein sehr großzügiger Mann, nicht wahr?«

Étienne lehnt sich gegen den Tresen und klatscht sich den Lappen in den Nacken. »Worauf willst du hinaus?«

»Er wird Andrea gut bezahlt haben.«

»Wenn sie seine persönliche Sekretärin war ... davon kann man wohl ausgehen.«

»Und bestimmt hat er sie Tag und Nacht erreichen wollen«, spinne ich den Gedanken weiter. »Also besitzt sie vielleicht einen Fernsprecher.«

Seymour scheint als Erster zu begreifen, was ich zu sagen versuche. Er schiebt das Tor auf. »Kommt! Nicht weit von hier gibt es einen öffentlichen Fernsprecher.«

Étienne wendet sich an Onkel Raji. »Lass das Radio nach Roquette liefern, ja?« Er nickt mir zu. »Komm, Betty.«

Das muss er mir nicht zweimal sagen. Ich bin so voller Energie, dass ich mich fühle, als hätte ich die letzten Minuten auf einer Sprungfeder gesessen.

Mit einem Satz bin ich bei der Tür und folge Seymour auf die Gasse hinaus.

Es sind nicht mehr viele Joumin in den Straßen. Die meisten müssen sich inzwischen in ihre Häuser verzogen haben. Der schwache Klang von Sirenen hallt durch das Viertel. Davon abgesehen herrscht eine fast schon geisterhafte Stille.

Weiter hinten ist das Joumin-Geldhaus in schwarzen Dunst eingehüllt. Die Rauchsäule reicht bis in den Himmel und mischt sich mit den dunklen Wolken, die vom Ozean her in die Stadt ziehen.

Wir laufen in die entgegengesetzte Richtung, bis wir den Rand von Jouyan-sin erreichen. Dort überqueren wir eine breite Straße, auf der viele Gespanne und Voiturettes unterwegs sind.

Ein leichter, unangenehm kalter Nieselregen setzt ein.

Immer wieder bleiben ganze Trauben von Spaziergängern stehen und starren entsetzt in den Himmel über dem Joumin-Viertel. Andere Passanten scheinen dagegen krampfhaft nicht hinsehen zu wollen. Mit gesenkten Köpfen hasten sie an uns vorbei.

»Hier. Gleich da vorne«, sagt Seymour und deutet auf einen mannshohen Glaskasten am Eingang einer öffentlichen Parkanlage. Die Köpfe der Palmen und Platanen wiegen sich im Wind. Es rauscht und raschelt und ich kann die unverhohlene Drohung der Natur spüren. »Rein da«, verlangt Seymour und hält uns die Tür auf.

DrudenkussWo Geschichten leben. Entdecke jetzt