Schnauzbart – oder Monsieur Cumin, wie sein richtiger Name lautet – schiebt mich zu Étienne in die Zelle. Dabei kneift er mir fest in den Hintern.
Ich fahre herum und schlage seine Hand weg.
Cumin lacht.
»Vorsicht, mein Freund«, sagt Étienne, vordergründig jovial, aber mit einem gefährlichen Unterton in der Stimme.
Ich schließe nicht aus, dass er Cumin für seinen Übergriff bezahlen lassen würde, wären nicht mehrere Schießeisen auf ihn und mich gerichtet.
»Ist schon gut«, sage ich beschwichtigend. Étienne soll sich nicht wegen eines Kniffs in den Po eine Kugel einfangen.
Poireau – Cumins Kumpan – schließt die Zellentür hinter mir. Das Eisen knallt zu und ich kann hören, wie das Schloss einschnappt.
Unwillkürlich frage ich mich, ob die Eisenstangen Étienne in seiner Stiergestalt aufhalten könnten. Für mich stellen sie jedenfalls kein Hindernis dar, aber das müssen diese Dummköpfe ja nicht wissen.
»Und was soll das jetzt werden?«, fragt Étienne und lehnt sich gegen die Metallstreben, als wollte er mit den Männern, die uns gefangen genommen haben, ein Pläuschchen halten. »Hm?«, macht er. »Wollt ihr uns hier einsperren und das war's dann?« Er mustert die Gesichter der Gendarmen, die ausdruckslos zurückstarren.
Seymour ist nicht mehr darunter. Er muss in einem unbeobachteten Moment gegangen sein.
Kurz keimt Hoffnung in mir auf, aber nur für ein paar Sekunden. Dann kehrt Seymour zu uns zurück – und er ist nicht alleine.
Der Mann, der ihn begleitet, kommt mir bekannt vor, aber ich kann zunächst nicht genau sagen, woher. Vielleicht liegt es an den ungünstigen Lichtverhältnissen im Kerker, dass ich ihn nicht sofort erkenne. Erst, als er den Mund aufmacht, wird mir klar, wen ich vor mir habe.
Président Marc Louis Palmier ist ein hochgewachsener, schlanker Mann Mitte fünfzig, mit einem schmalen Gesicht, eingefallenen Wangen, prominenten Geheimratsecken und einem grau melierten Kinnbart. Er trägt etwas, das mich an die abgespeckte Variante einer Galauniform erinnert. Der asymmetrische Schnitt, der elegante Überwurf und der breite Gürtel sind identisch, aber die Farben (blau und rot, statt schwarz) und die Menge an Zierrat unterscheiden sich und verleihen seinem Aufzug etwas deutlich legereres.
»Monsieur Romarin«, sagt der Präsident im gleichen routinierten Tonfall, wie ich ihn aus dem Radio kenne. »Endlich lernen wir uns mal kennen.«
»Kann nicht sagen, dass ich auf diesen Moment hingefiebert hätte«, erwidert Étienne und fasst die Eisenstäbe mit beiden Händen. »Auch wenn es keine echte Überraschung ist, Sie zu sehen.«
Ich bin auch nicht wirklich überrascht, den Präsidenten zu sehen. Und gleichzeitig bin ich es irgendwie doch. Vielleicht, weil ich nicht damit gerechnet hätte, dass er sich persönlich die Ehre geben würde. Und, zugegeben, ich bin ein bisschen eingeschüchtert. Immerhin begegne ich nicht jeden Tag einflussreichen Menschen wie dem ostragonischen Präsidenten.
»Lassen Sie mich raten ... Sie wollen die Pläne für die Maschine, mit der König Lyonel damals den Krieg gewonnen hat«, fährt Étienne fort und schnalzt spöttisch mit der Zunge. »Tja, tut mir leid, aber da muss ich Sie enttäuschen.«
»Die Pläne werden schon noch kommen«, erwidert der Präsident mit einem dünnen Lächeln und einem kurzen Seitenblick zu Seymour.
Obwohl Palmier sich große Mühe gibt, souverän zu wirken, habe ich den Eindruck, dass er nervös ist. Oder täusche ich mich da? Sollte ein Berufspolitiker nicht besser darin sein, einen gelassenen Eindruck zu vermitteln? Doch irgendetwas an der Art, wie er die Arme verschränkt und unseren Blicken ausweicht, vermittelt mir das Gefühl, er würde sich in unserer Gesellschaft ausgesprochen unwohl fühlen. Hat er etwa Angst vor uns? Der Gedanke ist bizarr. Immerhin ist er der Mann mit den bewaffneten Gendarmen an seiner Seite. Und er hat Seymour in der Hand. Aber vielleicht sind es auch nicht Étienne und ich, die er fürchtet.
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Drudenkuss
FantasyElisabeth Pommier leidet unter einem Drudenfluch. Das bedeutet, sie muss jede Nacht ein schlafendes Opfer heimsuchen, um es zu drücken. Sie macht das Beste aus ihrer Beeinträchtigung und nutzt die resultierenden Albträume ihrer Opfer, um sich als Sc...