Während ich noch um Fassung ringe, öffnet sich die Tür zu Narcisse' Schlafzimmer. Mein erster Gedanke ist, dass es sich um einen Bediensteten handeln muss, der etwas gehört hat.
Instinktiv ziehe ich die Beine an und presse mir die Hände auf den Mund, um meine Atemgeräusche zu dämpfen.
Schritte nähern sich. Jemand hat das Schlafzimmer betreten.
Von meiner Position aus kann ich die Person nicht sehen, aber ich vermute anhand des Klangs der Schritte, dass es sich um einen Mann handelt. Er nähert sich dem Bett.
Ich hoffe, dass er bloß nachsehen will, ob bei Narcisse alles in Ordnung ist, doch dann umrundet er das Bett und geht zum Fenster. Seine Silhouette hebt sich scharf umrissen gegen den orangefarbenen Schein der Straßenlaternen ab – und ich kann sehen, mit wem ich es zu tun habe: der Capitaine.
Ein Teil von mir will erleichtert aufatmen. Ein anderer Teil von mir weiß es besser und bringt mich dazu, das Atmen einzustellen.
Wie erstarrt sitze ich zwischen Kommode und Schrank und kann nur daran denken, was passieren wird, wenn Julien Faucon mich entdeckt. Wird er mich für eine von den Contres halten und mich verhaften? Oder wird er mich gleich an Ort und Stelle abknallen? Ich würde es ihm zutrauen. Er hat etwas an sich, das eine uralte Furcht in mir weckt. Es hat mit seinem sicheren Gang zu tun und mit der Art, wie sein Haar liegt. Jede einzelne Strähne an ihrem Platz. Geradezu unheimlich.
Ist das albern?
Ich weiß es nicht und ich habe keine Zeit, um darüber nachzudenken. Meine Lunge brennt, mein Herz rast und mein Magen hebt sich unangenehm. Wenn Faucon nicht gleich wieder geht, werde ich ersticken. Doch er steht nur da, vollkommen still, und sieht in die Nacht hinaus. Die schwarze Uniform unterstreicht das Gewöhnliche seiner Erscheinung. Das Gewöhnliche, das ihn auf seltsame Weise außergewöhnlich macht.
Doch dann – ganz plötzlich, als hätte er von irgendwoher ein geheimes Signal erhalten – geht er zu Narcisse und zieht etwas aus seiner Jackentasche, das ich im Halbdunkeln nicht gut erkennen kann.
Danach geht alles ganz schnell.
Faucon hebt die Hand. Der Gegenstand blitzt im Mondlicht silbrig auf. Die Hand schnellt wie ein Fallbeil herab und der Gegenstand bohrt sich mit einem dumpfen Laut in die Brust meines Auftraggebers. Ein Ruck geht durch Narcisse' Körper. Ich höre ein Geräusch, das klingt, als würde er keuchend nach Luft schnappen. Sein Oberkörper bäumt sich auf, seine Beine zucken unter der Bettdecke, dann sinkt er wieder zurück und liegt still.
Ich atme schnaufend in meine hohle Hand. Schweiß tritt mir aus allen Poren. Hat der Capitaine gerade ... Narcisse umgebracht?
Faucon verändert seinen Griff um das Messer, das er Narcisse in die Brust gerammt hat. Doch anstatt es herauszuziehen, führt er es vom Herzen in Richtung Bauchnabel, als wollte er einen Fisch filetieren. Dabei muss er sich offenbar ordentlich anstrengen. Jedenfalls packt er das Messer mit beiden Händen und nutzt seinen ganzen Körper, um Druck aufzubauen.
Die Klinge zerteilt Narcisse' Kleidung, schneidet durch sein Fleisch und schabt gut hörbar über seine Knochen. Der metallische Geruch von Blut breitet sich aus und ich kann sehen, wie sich die Bettdecke dunkel färbt.
Tränen des Entsetzens steigen mir in die Augen und mir entweicht ein angsterfülltes Wimmern.
Sofort hält Faucon inne.
Ich kneife die Augen zusammen und beiße mir in die Handinnenfläche, spüre jedoch keinen Schmerz. Alles, was ich spüre, sind die heißen Tränen, die mir über die Wangen laufen, und das unregelmäßige Hämmern meines Herzens, das meinen ganzen Brustkorb vibrieren lässt.
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Drudenkuss
FantasyElisabeth Pommier leidet unter einem Drudenfluch. Das bedeutet, sie muss jede Nacht ein schlafendes Opfer heimsuchen, um es zu drücken. Sie macht das Beste aus ihrer Beeinträchtigung und nutzt die resultierenden Albträume ihrer Opfer, um sich als Sc...