Am nächsten Morgen erwachen Étienne und ich eng umschlungen auf dem Teppich vor dem Kamin.
»Guten Morgen!«
Jemand reißt die Vorhänge auf. Gleißendes Sonnenlicht flutet das Zimmer.
Ich stöhne und wende das Gesicht ab.
»Adeline ... verdammt«, ächzt Étienne.
»Wie ich sehe, hattet ihr eine angenehme Nacht.«
Étienne fasst nach einer der herumliegenden Decken und zieht sie über meinen nackten Körper. »Ach? Sieht man das?«
»Es ist schon fast Mittag«, erwidert Adeline vorwurfsvoll.
Étienne schnappt sich eine der anderen Decken und wickelt sie sich um die Hüfte. »Falls du dich daran erinnern solltest ... wir hatten gestern einen anstrengenden Tag.«
»Deine Kraft hat offenbar noch gereicht, um Mademoiselle Pommier zu beglücken.«
»Wir hatten nur ... wir waren nur ...« Étienne schnauft. »Ich werde dir das jetzt nicht erklären.«
»Du brauchst mir gar nichts erklären. Ich war schon verheiratet, da hast du noch in die Windeln gekackt. Und auch wenn das kein Kriterium sein mag, kann ich dir versichern, dass wir den fleischlichen Vergnügungen nie abgeneigt waren – in jeder Form und-«
»Bei den Göttern«, ächzt Étienne. »Ich will es gar nicht wissen.«
Adeline schüttelt missbilligend den Kopf. »Die jungen Leute denken immer, sie wären die Ersten, die Kap Doorn umsegeln.«
Langsam wird mir bewusst, was eigentlich los ist.
»Es ist schon Mittag?«, frage ich, wickele mich in die Decke und ziehe mich am Sessel auf die Beine. Obwohl die vergangene Nacht mehr als angenehm war, brummt mir der Schädel.
»Ist es«, bestätigt Adeline. »Und ich muss Sie beglückwünschen, Mademoiselle Pommier.«
»Ach ja?«, fragen Étienne und ich unisono.
»Sie hatten doch die Idee, sich bei der Vermittlung nach dem zweiten Anrufer zu erkundigen.«
»Hat Seymour Ihnen davon erzählt?«
»So in der Art. Er macht sich vor dem Schlafengehen immer Notizen und liest sie dann beim Frühstück. Dabei sind wir auf Ihren vielversprechenden Einfall gestoßen.«
Étienne nickt mir anerkennend zu.
Ich muss zugeben, dass ich mich geschmeichelt fühle, auch wenn ich nicht glaube, dass mein Einfall so außergewöhnlich schlau gewesen ist. Aber vielleicht halten mich wirklich alle für bescheuert und loben mich deswegen so überschwänglich für die kleinsten Denkleistungen.
»Das Fernsprecher-System ist zusammengebrochen, nicht wahr?«, erkundige ich mich, während ich die Umgebung nach meinem blauen Kleid und meiner Unterwäsche absuche. »Das bedeutet, wir müssen bei der Vermittlung vorbeifahren.«
»Schon geschehen«, erwidert Adeline.
Ich halte inne. »Was? Und?«
»Kommen Sie. Sie müssen etwas essen.«
»Ich muss ... aber ...«
Adeline ignoriert mein Gestotter und gleitet in den Speisesaal hinüber.
»Warum sagt sie mir nicht einfach, was sie rausgefunden hat?«, grolle ich, werfe die Decke ab und schlüpfe in meine Kleidung.
Étienne lehnt sich an den Kaminsims und sieht mir mit einem dümmlichen Lächeln auf den Lippen zu.
DU LIEST GERADE
Drudenkuss
FantasyElisabeth Pommier leidet unter einem Drudenfluch. Das bedeutet, sie muss jede Nacht ein schlafendes Opfer heimsuchen, um es zu drücken. Sie macht das Beste aus ihrer Beeinträchtigung und nutzt die resultierenden Albträume ihrer Opfer, um sich als Sc...