Mit einer zunehmenden Enge in der Brust beobachte ich, wie Adeline de Cinc Estrellia aus ihrem Fahrzeug steigt. Sie trägt noch dasselbe schwarze Kleid wie zuvor, dieselben schwarzen Lederhandschuhe und hohen Schnürstiefel. »Name und Dienstnummer«, sagt sie. Keine Frage, sondern ein Befehl. Ihre Tonfall ist schärfer als geschliffener Diamant.
Meine Peiniger scheinen vor Schreck zu erstarren. Keiner der beiden sagt ein Wort.
Mein Blick fällt auf Étienne Romarin, der in der Voiturette zurückgeblieben ist und mich mit einer einladenden Handbewegung dazu auffordert, ihm Gesellschaft zu leisten.
In diesem Moment wird mir bewusst, dass die Enge in meiner Brust daher rührt, dass ich seit Beginn des Übergriffs den Atem anhalte. Ich schnappe nach Luft, winde mich aus dem Griff des Hageren, renne zu Étienne und springe zu ihm auf die gepolsterte Sitzbank.
Hinter mir wiederholt Adeline de Cinc Estrellia ihren Befehl. »Name und Dienstnummer, ihr Eckenpisser.«
Diese Beleidigung habe ich noch nie gehört. Schon gar nicht aus dem Mund einer Dame. Andererseits ist Adeline die ehemalige Leiterin des Corps. Sie muss wissen, wie man mit diesen Rüpeln umgeht.
»Alles in Ordnung?«, erkundigt sich Étienne.
Ich wische mir die feuchten Haare aus dem Gesicht und nicke, auch wenn ich mich innerlich ganz zittrig fühle. Mein Herz flattert im Brustkorb herum wie ein hysterischer Vogel in einem zu kleinen Käfig. Und ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich das Gefühl habe, mir gleich in die Hose machen zu müssen. »Was ... was machst du hier?«
»Ich wurde zum Essen ausgeführt«, antwortet Étienne und hängt mir galant seinen Mantel um die Schultern, auch wenn es nicht unbedingt nötig gewesen wäre (die beiden Kerle haben mir schließlich nicht die Kleidung vom Leib gerissen), aber ich beschwere mich nicht. Der dunkle Wollstoff riecht angenehm nach Zigarrenrauch, Branntwein, Männerschweiß und einem Hauch Lavendel. Und – was noch viel besser ist – er ist vorgewärmt.
»Ganz in der Nähe gibt es einen ausgezeichneten Westragonen«, fährt Étienne fort. »Die machen einen delikaten Grünkohlauflauf. Und die Hackrouladen erst ...«
Bei diesen Worten meldet sich mein Magen zu Wort. Genau wie mein anderer Magen. Wenn ich nicht bald jemanden drücke, stehen mir Höllenqualen bevor.
A propos Höllenquallen. Adeline de Cinc Estrellia verpasst den beiden Rüpeln soeben eine verbale Abreibung. Sie würde die zwei bei ihrem Vorgesetzten melden. Aber nur, wenn sie sich jetzt kooperativ verhielten. Andernfalls könne man das Problem auch anders lösen. Es fallen Begriffe wie Belästigung einer Dame, Dienstversagen, Schande des gesamten Corps und unehrenhafte Entlassung.
»Vergiss die beiden«, sagt Étienne kopfschüttelnd. »Denen kann niemand mehr helfen.«
»Sie haben es verdient.«
»Da bin ich ganz deiner Meinung.« Étienne legt den Kopf schief und mustert mich von der Seite. Regentropfen trommeln auf das Faltverdeck der Voiturette und ich denke daran, wie seltsam es ist, dass das Schicksal uns erneut zusammengeführt hat.
Romantisch? Möglicherweise.
Verdächtig? Ganz bestimmt.
Aber vielleicht ist das auch nur meine Paranoia, die sich mal wieder zu Wort meldet.
Étienne scheint sich jedenfalls ganz ähnliche Fragen zu stellen. »Was ist mit dir?«, will er wissen. »Was machst du hier? Und vor allem ... in diesem Aufzug?«
»Männerkleidung ist eben bequem«, gebe ich zurück.
»Zweifelsohne«, erwidert Étienne. »Und ... ganz ehrlich ... du kannst es tragen, aber ...«
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Drudenkuss
FantasyElisabeth Pommier leidet unter einem Drudenfluch. Das bedeutet, sie muss jede Nacht ein schlafendes Opfer heimsuchen, um es zu drücken. Sie macht das Beste aus ihrer Beeinträchtigung und nutzt die resultierenden Albträume ihrer Opfer, um sich als Sc...