52) Abwärts

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»Denkst du, sie werden noch kommen?«, frage ich zum wiederholten Mal, während ich mich an Étiennes ausgestreckter Hand festhalte, auf der Mauer balanciere und die Umgebung absuche.

»Natürlich kommen die«, antwortet Étienne, aber mir entgeht nicht, dass er ebenfalls unruhig geworden ist.

Kein Wunder. Die Sonne neigt sich bereits dem Horizont entgegen und noch immer gibt es keine Spur von Seymours Entführern.

»Was, wenn sie nicht kommen?« Ich bewege mich weiter über die Mauerkrone und steige dabei immer höher hinauf. Nach ein paar Schritten muss ich Étiennes Hand loslassen und breite stattdessen die Arme zu beiden Seiten aus, um das Gleichgewicht zu halten.

Étienne macht sich bereit, mich aufzufangen, falls ich stürzen sollte. »Sie werden kommen, Betty. Wieso auch nicht? Wir haben schließlich die Pläne.«

»Was, wenn das alles nur ein Trick war?«

»Was denn für ein Trick?«

»Keine Ahnung.«

Ich bleibe stehen und lasse meinen Blick über die Burganlage, den ausgetrockneten Wassergraben und die Baumwipfel schweifen. In der Ferne kann ich die Chenilles erkennen. Wie das knochige Rückgrat eines ausgemergelten Straßenköters heben sie sich gegen den hellroten Abendhimmel ab. Auf der anderen Seite liegt der kleine Hügel, auf dem sich das Perlen-Viertel befindet. Dort habe ich Narcisse gedrückt und tatenlos zugesehen, wie der Capitaine ihm ein Messer in den Leib gerammt hat. So etwas will ich nicht noch einmal erleben.

Doch Seymours Entführer sind immer noch nicht eingetroffen. Vielleicht ist etwas schiefgelaufen. Vielleicht haben wir mit unserer verfrühten Anwesenheit gegen irgendeine Regel verstoßen. Oder werden wir vielleicht genau in diesem Moment beobachtet? Sind Seymours Entführer bereits hier und wir haben sie bloß noch nicht bemerkt?

Der Gedanke hat eine eigenartige körperliche Präsenz, als könnte ich die lauernden Blicke mehrerer Beobachter auf mir spüren. Die Geräuschkulisse verändert sich. Das abendliche Zirpen der Zikaden scheint leiser zu werden. Ich merke, wie sich die kleinen Härchen an meinen Unterarmen aufstellen. Mein Nacken kribbelt.

Hinter mir raschelt es in den Berberitzenhecken. Sofort fahre ich herum. Dabei verliere ich den Halt auf der Mauerkrone und stürze – allerdings nicht in Étiennes ausgebreitete Arme, sondern in die andere Richtung.

Es geht so schnell, dass ich nicht einmal Zeit zum Schreien habe.

Mit einem erstickten Geräusch lande ich im Gras, das die Wucht meines Sturzes abfängt. Doch etwas ist komisch. Unter dem Gras ist etwas Anderes. Etwas Festes. Keine Erde, sondern-

Der Untergrund gibt unter mir nach und ich falle in einem Regen aus Erdbrocken und Holzsplittern in die Tiefe. Zum Glück nicht sehr weit. Nach ein paar Metern lande ich erneut – aber diesmal ist es bedeutend schmerzhafter. Mein Skelett knackt und der Schmerz schießt mir bis hinauf in die Stirnhöhlen. Ächzend und stöhnend rolle ich mich auf den Rücken.

»Betty? Betty!«

Tränen verkleben mir die Wimpern. Mein Kinn brennt, mein Kiefer schmerzt, jeder Knochen meines Körpers scheint zu vibrieren.

»Betty?«

Étienne kommt neben mir auf. Das Geräusch seines Aufpralls erzeugt ein dumpfes Echo. Daraus schließe ich, dass ich in einer Art unterirdischen Höhle oder Kammer gelandet sein muss.

»Betty?« Étienne hilft mir dabei, den Kopf zu heben. Dadurch erreicht der Schmerz noch einmal eine neue Intensität.

»Hnn ... Gott ... verflucht«, zische ich durch zusammengepresste Zähne.

DrudenkussWo Geschichten leben. Entdecke jetzt