Um mich herum ist es vollständig dunkel.
Ich taste mich vorwärts und stoße gegen ein Möbelstück, das ich für einen Tisch halte. Meine Hände berühren etwas Kaltes, Metallisches. Ich fahre mit den Fingern daran entlang, schiebe und drücke, bis plötzlich ein Licht angeht.
Im ersten Moment bin ich geblendet, doch als sich meine Augen an die unerwartete Helligkeit gewöhnt haben, wird mir bewusst, dass ich eine Gaslaterne, wie sie bei Grubenarbeiten verwendet wird, gefunden habe. Sie steht auf einem Tisch im Zentrum des Tresorraums, direkt neben einem hübschen Schmuckkästchen aus rotbraunem Kiefernholz.
Ein dumpfes Geräusch lässt mich herumfahren, doch es ist nur Adeline, die von außen gegen die Tür klopft. »Mademoiselle Pommier? Geht es Ihnen gut?«
Ich lasse meinen Blick schweifen. Der Tresorraum wird von hohen Schrankwänden mit unzähligen Schubladen ausgekleidet. Jede Schublade ist mit einer kleinen Messingplakette und einer Nummer versehen. Staub tanzt in der Luft und es riecht muffig. Sogar ein bisschen schimmelig.
»Sie müssen sich beeilen«, höre ich Adeline sagen.
Ich weiß, dass mir nicht viel Zeit bleibt, aber ich habe keine Ahnung, wo ich mit der Suche anfangen soll.
Mein Blick fällt erneut auf das Schmuckkästchen. Hat Monsieur Tahoa nicht gesagt, sie hätten bereits alles zur Abholung vorbereiten lassen?
Da ich ohnehin keine große Wahl habe, wenn ich nicht Stunden damit zubringen will, alle Schubladen zu durchforsten, nehme ich das Kästchen und klappe es auf. Darin liegen mehrere zusammengefaltete Dokumente. Mit zittrigen Fingern falte ich sie auseinander.
Es scheint sich um Zeichnungen zu handeln. Oder nein. Die Kommentare und Maßangaben am Rand deuten eher auf Pläne hin. Baupläne. Für eine Maschine, die der Maschine aus Narcisse' Albtraum zum Verwechseln ähnlich sieht.
Die Luft im Innern des Tresorraums scheint sich zu verdichten. Ich kann kaum noch atmen. Die Dokumente entgleiten meinen Fingern und landen auf der Tischplatte. Die Pinselstriche verschwimmen. Ich stütze mich mit den Händen auf dem Tisch ab und schließe die Augen.
Aus dem Nebenraum dringen gedämpfte Stimmen. Offenbar sind Isabel, Mae und Adeline nicht mehr alleine.
Ich reiße mich zusammen, schüttele den kurzen Schwächeanfall ab, stopfe mir die Dokumente ins Dekolleté und husche zurück zur Tür.
Dort halte ich inne und lausche.
Ich höre die Stimme eines Mannes. Er klingt laut und melodramatisch, auch wenn ich nicht verstehen kann, was er sagt.
Beunruhigt leite ich meine Verwandlung ein und gleite durch den Türspalt zurück in den Raum, aus dem ich gekommen bin. Ein Windzug wirbelt mich hoch in die Luft, unter die Stoffbahnen an der Decke. Von dort kann ich das Geschehen überblicken.
Ein komischer Mann hat das Zimmer betreten. Er ist noch größer als Étienne, aber nicht muskulös, sondern massig. Es ist nicht, als ob er einen Bauch hätte; er scheint ausschließlich aus Bauch zu bestehen. Er ist in einen glänzenden Seidenkaftan mit goldenen Knebelverschlüssen gehüllt, der über seinem korpulenten Leib spannt. Dazu trägt er eine Art Zipfelmütze, einen bleistiftdünnen Oberlippenbart und jede Menge funkelnden Schmuck. Seine Finger, seine Arme, seine Ohren, sogar seine Zähne blinken und blitzen.
Sofort weiß ich, dass ich es mit Bo Haru-Sin zu tun habe. Der kleine Hase höchstpersönlich.
Ich bin mir nicht sicher, ob wir uns geschmeichelt fühlen sollten. Bo Haru-Sin ist nämlich nicht alleine gekommen. Bei ihm sind mehrere grobschlächtige Schlägertypen und ein junger Mann mit weichen, beinahe schon weibisch wirkenden Gesichtszügen.
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Drudenkuss
FantasyElisabeth Pommier leidet unter einem Drudenfluch. Das bedeutet, sie muss jede Nacht ein schlafendes Opfer heimsuchen, um es zu drücken. Sie macht das Beste aus ihrer Beeinträchtigung und nutzt die resultierenden Albträume ihrer Opfer, um sich als Sc...