65) Nacht der Entscheidung

102 26 8
                                    

Am Cerisier-Anwesen werden wir schon von Seymour und Isabel erwartet.

Seymour trägt einen eleganten, schwarzen Frack und Isabel ein hübsches, knielanges Kleid aus grüner Seide und dazu einen Kopfschmuck mit Perlen und Spitze, um ihre Elfenohren zu verbergen. Ihre Augen strahlen und sie wirkt trotz der Umstände glücklich, unter Menschen zu sein. Vermutlich war sie auch noch nie auf einer Party.

Seymour kommt zum Wagen, öffnet die Tür und reicht mir die Hand, um mir ins Freie zu helfen.

Ich bedanke mich und trete an den Straßenrand. Von dort verschaffe ich mir einen Eindruck von unserer Lage.

Das Cerisier-Anwesen ist eine kastenförmige Villa in Südhanglage, deren Fassade von Balustraden, Arkaden und einem hervorspringenden Avantcorps gegliedert wird. Die hohen berlitzer Fenster lassen an schönen Tagen viel Sonnenlicht herein und unter dem mehrgeschossigen Mansarddach finden bestimmt zahlreiche Dienstbotenzimmer Platz.

An das Anwesen grenzt ein noch größeres, u-förmiges Gebäude mit einem ähnlichen Baustil. Vermutlich die Schule.

Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie lange es dauern wird, beide Häuser zu durchsuchen. Und wie sollen wir überhaupt in die Schule hineinkommen? Bestimmt ist sie um diese Uhrzeit längst abgeschlossen.

»Na, mein Freund«, sagt Étienne, nachdem er etwas umständlich aus der Voiturette geklettert ist, und begrüßt Seymour mit einem Handschlag. »Bereit?«

»Natürlich«, antwortet Seymour. »Ich habe ja auch nichts zu verlieren. Egal, wie die Sache läuft, morgen werde ich es vergessen haben, nicht wahr?«

Étienne klopft ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Noch, mein Freund, noch.«

Derweil hüpft Isabel aufgeregt auf der Stelle. »Gehen wir jetzt rein?«

»Gleich«, sagt Étienne und geht noch einmal zu Adeline. Die beiden wechseln ein paar Worte, dann reicht Adeline ihm ein Stück Stoff und verabschiedet sich mit einem Kopfnicken.

Ich sehe der Voiturette nach, wie sie sich in den Strom der abfahrenden Fahrzeuge einreiht.

Es ist abgemacht, dass Adeline und der größte Teil der Gendarmen am Fuß des Hügels darauf warten, dass wir ihnen ein Zeichen geben. Andernfalls würde das massive Polizeiaufgebot unsere Pläne verraten und die anwesenden Eisenkreuzer zum Handeln zwingen. Und das wollen wir auf keinen Fall.

»Hier, Betty«, sagt Étienne, als er zu uns zurückkehrt, und reicht mir ein Paar armlange, weiße Handschuhe. »Die sind von Adeline. Sie haben ihr früher mal Glück gebracht und jetzt sollst du sie tragen.«

»Ich ... danke«, sage ich überrumpelt.

»Kannst dich später bei ihr bedanken.«

Étienne muss die Stimme erheben, um ein rasch anschwellendes Dröhnen zu übertönen. Unwillkürlich kommt mir der Gedanke, das Geräusch könnte von der magischen Maschine stammen. Das Herz hüpft mir erst in den Hals und plumpst mir anschließend wie ein tonnenschwerer Kieselstein in den Magen.

Auch Étienne und Seymour wirken kurz verunsichert.

Doch dann reißt die Wolkendecke über uns auf und der messingbeschlagene Bug eines Luftschiffs bricht aus dem Dunst.

Alle vor dem Haus versammelten Partygäste halten inne, legen die Köpfe in den Nacken, staunen, lachen und applaudieren. Der Anblick ist wirklich spektakulär. Am Bug des Luftschiffs prangt eine Galionsfigur in Form einer halbnackten, geflügelten Frau mit wehendem Haar und ausgebreiteten Armen. Der ovale Auftriebskörper ist von blutroter Farbe und mit einem goldenen Drachen und einem weißen Joumon-Schriftzeichen geschmückt.

DrudenkussWo Geschichten leben. Entdecke jetzt