»Tut mir leid«, stammele ich und wische den Tee mit dem Ärmel meines Nachthemds auf.
Adeline scheint den Zwischenfall gar nicht bemerkt zu haben. Sie legt die Zeitung vor sich ab und streicht das Papier mit den Händen glatt. Genau wie bei unseren bisherigen Begegnungen trägt sie schwarze Lederhandschuhe.
»Was schreiben sie?«, fragt Étienne und lässt sich auf seinen Stuhl sinken. Dabei führt er eine Hand zu seinem Mund und tippt sich mit dem Zeigefinger an die Unterlippe.
Adeline lehnt sich zurück und verschränkt die Arme vor der Brust. »Hugo Merchant von der Tribune nennt es eine grauenhafte Hinrichtung und Miriel Aiguille von der Presse einen Ritualmord. Anscheinend wurde Narcisse ziemlich übel zugerichtet und ...« Ihr Blick wandert zu mir, als wollte sie sich für ihre folgenden Worte entschuldigen. »... ausgeweidet.«
Ich kann hören, wie Faucon zusticht. Das dumpfe Geräusch fährt mir bis in die Knochen. Es ist, als würde ich die Klinge am eigenen Leib spüren. Langsam senke ich den Blick. Beinahe erwarte ich, Blut auf meinem Nachthemd zu sehen. Gedärme, die aus mir herausquellen und mit einem feuchten Klatschen auf dem Fußboden landen.
»Betty?«, fragt Étienne besorgt.
Ich balle die Hände zu Fäusten. Alles in mir schreit danach, aufzuspringen und wegzurennen. Aber ich weiß, wenn ich jetzt wegrenne, werde ich immer wieder wegrennen. Außerdem muss ich wissen, was mit Narcisse passiert ist, und warum. Das bin ich ihm schuldig.
»Sie vermuten, dass seine politischen Gegner dahinterstecken«, fährt Adeline fort.
»Die Contres«, murmelt Étienne und zupft an seiner Unterlippe herum.
»Aber das ist nicht wahr!«, sage ich, stütze die Ellenbogen auf den Tisch und presse die Stirn gegen meine Fäuste, die so fest zusammengeballt sind, dass meine Finger weiß anlaufen. »Julien Faucon hat ihn getötet. Ich habe es gesehen.«
Adeline ignoriert meinen Ausbruch und raschelt mit der Zeitung. »Ich habe den Morgen genutzt und mich schlaugemacht. Capitaine Julien Faucon ist sogar meinen Kontakten im Corps ein Rätsel. Anscheinend ist er erst vor ein paar Wochen zum ersten Mal offiziell in Erscheinung getreten. Niemand weiß genau, was er vorher gemacht hat, aber offenbar hat er sich damit das Vertrauen des Präsidenten erworben. Sonst wäre er nicht in seiner jetzigen Position.«
»Der Präsident!«, fällt es mir glühend heiß ein. »Narcisse und der Präsident hatten einen Streit.«
»Président Marc Louis Palmier?«, fragt Seymour ungläubig.
»Ja, ja!« Ich versuche, mich an meinen Besuch bei Narcisse zu erinnern. »Es ging um Narcisse' Auftritt vor dem Oberhaus. Palmier wollte den Termin verschieben und Narcisse hat geglaubt, der Präsident würde ihn damit bloß hinhalten wollen.«
»Und wieso sollte-«
»Weil er keinen Frieden mit den Elfen will!«, falle ich Seymour ins Wort. Ich kann ihm ansehen, dass er mir nicht mehr folgen kann und bemühe mich um einen ruhigeren Tonfall und eine geordnetere Erzählweise. »Narcisse hat mir erzählt, dass er in Ellyrien gewesen sei und mit den Elfen gesprochen habe. Er hat gesagt, er wüsste nun, dass die Ellyrier nicht die Verursacher der Elfenflüche seien. Und angeblich wüsste er auch, wer die Flüche verursacht hat.«
Étienne, Adeline und Seymour tauschen Blicke.
»Und dann war da noch was mit dem König.«
»König?«, wiederholt Seymour mit einem Stirnrunzeln, das die Bezeichnung nicht verdient. Es sieht eher aus, als würden hinter seiner Stirn Kanalbauarbeiten durchgeführt.
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Drudenkuss
FantasyElisabeth Pommier leidet unter einem Drudenfluch. Das bedeutet, sie muss jede Nacht ein schlafendes Opfer heimsuchen, um es zu drücken. Sie macht das Beste aus ihrer Beeinträchtigung und nutzt die resultierenden Albträume ihrer Opfer, um sich als Sc...