58) Der Weg

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Die Tür zur Empore knallt hinter mir zu und die Kühle des Vorraums legt sich auf meine Haut. Meine Augen sind noch geblendet vom grellen Licht, sodass ich meine Umgebung nur durch ein schwarzes Wabern erkennen kann.

Zitternd vor Schreck und Aufregung schiebe ich die Hand weg, die mich am Arm gepackt hält, und will mich ein paar Schritte entfernen. Dabei vergesse ich, dass ich mich auf einer Treppe befinde, stolpere ein halbes Dutzend Stufen hinunter und knalle unsanft gegen die Wand.

»Sehr elegant, Mademoiselle Potiron«, bemerkt eine bekannte Stimme.

Ich presse mich mit dem Rücken gegen das Mauerwerk, kneife die Augen fest zusammen und reiße sie wieder auf. Noch immer trüben Schatten mein Sichtfeld, aber durch die schwarzen Schlieren kann ich Julien Faucon erkennen, der mich mit ausdruckslos mustert.

Sofort setzt mein Fluchtinstinkt ein. Ich will die restlichen Stufen hinunterspringen, aber Faucon ist schneller, packt mich am Handgelenk und hält mich zurück.

Im gleichen Moment kann ich mehrere Uniformierte erkennen, die die Vorhalle in Richtung Thronsaal durchqueren.

»An Ihrer Stelle wäre ich jetzt ganz still«, raunt Faucon.

Die Gendarmen marschieren an uns vorbei, ohne uns zu bemerken. Sie haben es ganz offensichtlich eilig.

Aus der offenstehenden Tür zum Thronsaal ist ein vielstimmiges Ächzen, Stöhnen und Wimmern zu vernehmen.

Étienne, schießt es mir durch den Kopf. Ich muss zu Étienne. Ich muss wissen, ob es ihm gut geht.

Mit einem Ruck zieht Faucon mich zu sich heran. Ich taumele gegen ihn und fange mich mit einer Hand an seiner Brust ab. Er trägt dieselbe schwarze Uniform mit dem Löwenkopfwappen wie die anderen Gendarmen. Der silberne Zierrat drückt in meine Handfläche. Darunter spüre ich keine Wärme. Es ist, als wäre Faucon eine von Adelines Metallstatuen.

Angewidert ziehe ich die Hand zurück. »Was soll das?«, will ich wissen. »Wieso haben Sie mir geholfen?«

»Gute Frage«, erwidert Faucon, während er über meine Schulter hinweg den Gendarmen nachsieht, die nacheinander im Thronsaal verschwinden. »Vielleicht, weil ich denke, dass Sie noch immer ein paar Antworten auf meine Fragen haben.«

»Was für Fragen?«

»Sie sind jetzt die einzige Person in ganz Ostragon, die weiß, was Monsieur Narcisse in Ellyrien gesehen hat.«

»Ich habe nur einen Traum gesehen.«

»Die Träume, die eine Drude verursacht, sind anders.« Faucon sieht mich direkt an. Der Schein des Elfmonds ist nur ein schwaches Glimmen in der Finsternis hinter seinen Pupillen. »Wirklicher. Wahrer.«

Meine Furcht weicht einem schwelenden Zorn. »Wenn Sie Narcisse nicht getötet hätten, könnten Sie ihn selbst fragen, was die Elfen ihm erzählt oder gezeigt haben.« Ich kann mir einen spöttischen Tonfall nicht verkneifen. »Aber haben Sie nicht neulich noch behauptet, wir wären beide einer Lüge aufgesessen? Also ... warum kümmert es Sie, was Narcisse gesehen hat?«

»Das tut es nicht.«

»Aber-«

Faucon korrigiert sich. »Nicht direkt.«

Ich gebe einen entnervten Laut von mir. »Was – in Vikas Namen – wollen Sie von mir?«

»Zwei Dinge«, antwortet Faucon, löst seinen Griff um mein Handgelenk und packt mich stattdessen am Oberarm.

Ich versuche, mich loszureißen. Meine Abwehr ist wie ein Reflex. Nach allem, was ich Faucon anderen Menschen antun gesehen habe, ekelt mich seine Nähe so sehr, dass ich sie kaum ertrage. Als ich merke, dass ich nicht die Kraft habe, seine Hand abzuschütteln, zerre ich an seinem Arm, schlage ihm mit der Faust gegen die Brust und ziele auf sein Gesicht.

DrudenkussWo Geschichten leben. Entdecke jetzt