15) Wettrennen

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Nachdem ich mich etwas frisch gemacht und den verwischten Kohlestaub aus meinem Gesicht entfernt habe, kehre ich ins Foyer zurück. Étienne lehnt lässig am Tresen und redet mit dem Concierge. Er trägt keinen Gehrock, sondern nur ein weißes Hemd und eine hellbraune Hose mit einem beidseitig geknöpften Hosenlatz. In diesem legeren Aufzug fällt er unter dem uniformierten Personal und der gut betuchten Kundschaft des Hotels auf wie ein bunter Hund. Vermutlich sogar mehr als ich mit meinen aufgequollenen Lippen und rotgeweinten Augen.

Als Étienne mich entdeckt, grinst er übers ganze Gesicht, verabschiedet sich von dem Concierge und kommt mir entgegen. »Da bist du ja.« Er mustert mich, als wollte er sich vergewissern, dass ich unversehrt bin. Dann bietet er mir seinen Arm an, damit ich mich bei ihm unterhaken kann. »Gehen wir. Schnell. Bevor du es dir anders überlegst.«

»Ich überlege es mir nicht anders«, erwidere ich, auch wenn ich immer noch unschlüssig bin, ob ich die richtige Entscheidung getroffen habe. Im Grunde wäre ich lieber alleine und würde mich in den Schlaf heulen oder über mein bisheriges Leben, Elfenflüche und lang zurückliegende Kriege nachdenken, aber vielleicht ist es ganz gut, wenn ich Gesellschaft habe. Alles andere kann ich später nachholen. »Wie lange hast du auf mich gewartet?«

»Eine Weile«, antwortet Étienne. »Aber das ist nicht schlimm. Ich hatte ohnehin nichts vor und ich wusste ja, dass du heute einen wichtigen Termin auf der Perle hast.« Er betrachtet mich von der Seite. »Dein Gejaule von eben hat doch nichts mit Narcisse zu tun, oder?«

»Nicht direkt«, antworte ich ausweichend und wechsele schnell das Thema. »Was ist aus der attraktiven Reisenden geworden, die dir zugezwinkert hat?«

Étienne verzieht das Gesicht. »Ich glaube, der ist nur was ins Auge geflogen.«

Wir treten aus der Vordertür auf den sorgfältig gepflasterten Gehweg hinaus. Auf den Straßen herrscht eine für diese Uhrzeit unerwartete Betriebsamkeit. Große Pferdekarren und motorisierte Lastwagen schieben sich in einer langen Prozession hangabwärts, Richtung Hafen, wo der dunkelblaue Ozean in der Mittagssonne glitzert.

»Ein Berlitzer Dampfkahn hat auf den Untiefen am Hafeneingang Leck geschlagen«, erklärt Étienne. »Sie versuchen gerade zu retten, was zu retten ist.«

»Klingt nach einem Spektakel.«

Étienne wiegte den Kopf hin und her. »Wie man's nimmt. Leider passiert das gar nicht so selten. Der Hafen von Tournesol ist dafür bekannt, sogar erfahrene Kapitäne auf die Probe zu stellen.«

»Wollen wir uns das ansehen?«

»Ganz wie du willst«, erwidert Étienne. »Und kommt darauf an, ob du gerne unter Leuten sein möchtest oder eine etwas ruhigere Atmosphäre bevorzugst.«

Ich spiele in Gedanken beide Szenarien durch. »Ruhiger«, antworte ich schließlich. »Definitiv ruhiger.«

»Dann kommt der Hafen im Moment nicht in Frage.« Étienne hebt mahnend den Zeigefinger. »Aber keine Panik, ich weiß schon genau, was wir machen.«

Bei diesen Worten deutet er auf die Straßenbahn, die soeben aus einer schmalen Querstraße kriecht. Die Wagen sind zur Hälfte leuchtend blau und zur anderen Hälfte cremeweiß lackiert, was mich wohl nicht unabsichtlich an den Anblick des Ozeans erinnert. Beim Näherkommen geht von den Oberleitungen ein statisches Brummen und Knistern aus.

»Hast du einen Jeton?«, fragt Étienne.

»Einen was?«

Étienne zückt eine kleine, runde Messingscheibe mit verschnörkelter Prägung. »Nimm die hier.« Er kramt in seiner Hosentasche und drückt mir anschließend noch zwei weitere Jetons in die Hand. Das Metall fühlt sich lauwarm an. »Damit kannst du die Straßenbahn benutzen.«

DrudenkussWo Geschichten leben. Entdecke jetzt