»Mademoiselle Pommier«, sagt der Capitaine und deutet auf einen der freien Sessel. »Bitte, tun Sie uns den Gefallen.«
Mich zu ihm zu setzen, ist buchstäblich das Letzte, was ich will. Deshalb bin ich auch so erschüttert, als mein Körper sich ohne mein Zutun in Bewegung setzt.
Ehe ich mich versehe, bin ich schon im Wohnzimmer und nähere mich den quadratisch angeordneten Sesseln und Sofas. Dabei bemerke ich Étienne, der in einem der anderen Sessel sitzt. Er hat die Hände um die Armlehnen gekrallt und sieht aus, als wollte er jeden Moment aufspringen. Seine Lippen sind verkrampft und aus seinen Augen spricht der ganze halsstarrige Trotz eines kleinen Jungen im Körper eines 600-Kilogramm-Rindviehs.
Ich gehe zu dem verbliebenen Sessel, nehme Platz und klemme mir die Hände zwischen die Knie.
»Sind das jetzt alle?«, fragt Julien Faucon.
»Wo ist Andrea?«, will ich wissen.
Der Capitaine deutet auf das gegenüberliegende Sofa und auf eine Gestalt, die ich im Halbdunkeln zunächst für ein großes Kissen gehalten habe.
Andrea ist in sich zusammengesunken und dabei wie ein totes Insekt auf halbe Größe zusammengeschrumpft. Ihr Gesicht ist voller Blut – und dahinter ... ich will mir das Grauen, das sie in den vergangenen Minuten erlebt haben muss, nicht einmal ausmalen. Die einzelnen Bestandteile ihres Gesichts scheinen sich nicht mehr dort zu befinden, wo sie sein sollten. Sie sieht aus wie ein falsch zusammengesetztes Puzzle. Ihr Kopf ist an einer Seite eingedellt, eines ihrer Augen ist aus der Höhle gequollen, ihr Mund steht halb offen und ich kann sehen, dass ihr mehrere Zähne fehlen.
»Andrea und ich haben uns unterhalten«, sagt Faucon.
»Ist sie ...« Meine Stimme wird so leise, dass sie im Rauschen des Ozeans untergeht. »... tot?«
Faucon sieht mich unverwandt an. Seine Augen glimmen, als würde das Licht des Elfmonds sich darin spiegeln. »So ist es, Mademoiselle Pommier.« Er schürzt die Lippen. »Und falls es Sie beruhigt ... sie hat mir nichts verraten.«
»Verraten?«, echoe ich mit Blick zu Étienne, der gegen innere Ketten anzukämpfen scheint.
Ich weiß genau, wie es ihm ergeht. Es ist nicht so, dass ich mich nicht bewegen könnte oder keine Kontrolle über meine Glieder hätte, doch immer, wenn ich den Entschluss treffe, aufzuspringen und wegzurennen, überlege ich es mir im letzten Moment anders. Als würde Julien Faucon nicht meinen Körper, sondern einen Teil meiner Gedanken kontrollieren.
Faucon beugt sich vor und legt die Fingerspitzen aneinander. Sein makelloses Allerweltsgesicht zeigt keine erkennbare Regung. »Verkaufen Sie mich nicht für dumm, Mademoiselle Pommier. Sie wissen, wovon ich spreche. Ihr Auftraggeber, Monsieur Narcisse, hat sich in Ellyrien gefährliche Falschinformationen angeeignet.«
»Musste er deswegen sterben?«, flüstere ich, während mein Herz immer fester gegen meine Rippen hämmert. Andreas hervorgequollenes Auge scheint mich anzustarren. Weiß, fleischig und unförmig, wie eine komisch gewachsene Schneebeere.
»Er hat seinen Untergang selbst herbeigeführt«, erwidert Faucon.
Ein dumpfer Donner grollt über den Himmel und der Regen wird stärker. Im Stakkato prasseln die Tropfen gegen die Scheiben des Wintergartens.
»Für wen arbeiten Sie?«, fragt Étienne. Seine Stimme klingt seltsam. Schwach und heiser, als würde ihm irgendwas die Kehle zusammenschnüren.
Faucon ignoriert ihn. »Es ist meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass diese irreführenden Informationen aus Ellyrien mit Monsieur Narcisse begraben werden, Mademoiselle Pommier. Deswegen bin ich hergekommen, um mit Madame Feige zu sprechen. Mir ist jedoch schnell klar geworden, dass sie keine genauen Kenntnisse über die Vorgänge in Ellyrien hat. Allerdings habe ich erkannt, dass sie etwas vor mir versteckt.« Er schüttelt langsam, beinahe bedauernd den Kopf. »Leider hat ihre unerschütterliche Loyalität zu ihrem verstorbenen Arbeitgeber nicht zugelassen, dass sie sich selbst rettet.« Sein Blick wandert zu Andrea – oder zu dem, was noch von ihr übrig ist. »Ich hätte ihr Leid noch um Stunden oder Tage verlängern können, aber wir wären zu keinem anderen Ergebnis gelangt.«
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Drudenkuss
FantasyElisabeth Pommier leidet unter einem Drudenfluch. Das bedeutet, sie muss jede Nacht ein schlafendes Opfer heimsuchen, um es zu drücken. Sie macht das Beste aus ihrer Beeinträchtigung und nutzt die resultierenden Albträume ihrer Opfer, um sich als Sc...