Die Aufführung, die das ausschließlich aus Joumin zusammengesetzte Ensemble darbietet, handelt von der legendären Drachenkönigin. Soweit ich weiß, hat sie vor etwa einhundert Jahren im Norden regiert und ihr Land in den Krieg mit den Elfen geführt. Es heißt, sie sei eine Bilderbuchanführerin gewesen. Eine gerechte Herrscherin und eine fähige Generalin. In der Schule haben wir gelernt, dass sie in der Schlacht um den Zungenpass gefallen ist. Doch die Autoren des Stücks haben eine andere Auffassung der Ereignisse. In ihrer Version der Schlacht ist die Drachenkönigin nicht getötet, sondern von den Elfen gefangengenommen und nach Ellyrien verschleppt worden. Dort fällt sie in die Hände von König Ryul, dem damaligen Herrscher der Elfen.
An dieser Stelle endet der erste Akt und die Lichter gehen wieder an. Im Zuschauerraum erhebt sich Gemurmel. Das Publikum strömt aus dem Saal. Narcisse und ich stehen ebenfalls auf.
»Im Foyer gibt es Schaumwein und Schnittchen«, sagt mein Auftraggeber. Es klingt wie eine Einladung.
»Gehen Sie ruhig schon vor«, entgegne ich. »Ich muss mir noch schnell die Nase pudern.«
Narcisse lächelt. »Die Toiletten sind da vorne den Flur runter.«
Ich erwidere sein Lächeln, winde mich zwischen den Polstersesseln heraus und gehe in die empfohlene Richtung.
Vor den Toiletten hat sich eine lange Schlange gebildet und ich bin froh, dass ich mir nicht wirklich die Nase pudern muss. Stattdessen biege ich am Ende des Flurs nach links ab – und stoße prompt mit Étiennes Begleiterin zusammen.
»Oh, Entschuldigung«, stammele ich.
Die schwarz gekleidete Dame zuckt vor mir zurück und wirft mir einen bösen Blick aus schmalen, schilfgrünen Augen zu. Ihr Gesicht ist knochig und hager, mit einer papierdünnen Haut und hohlen Wangen. »Können Sie nicht aufpassen?« Sie besitzt keinen Akzent, aber sie redet mit einem leichten Singsang, wie man ihn nur in der Westragoner Oberschicht vorfindet.
»Es tut mir leid«, beteuere ich.
»Das sollte es auch.« Die schwarze Dame streicht ihren ausladenden Spitzenrock glatt. Mir fällt auf, dass sie Handschuhe aus dickem Büffelleder trägt, die sogar für kühle Herbsttage viel zu warm sein müssen. »Wenn Sie schon hier herumstolpern, machen Sie gefälligst die Augen auf.«
Mein Bedauern verwandelt sich in Verärgerung, aber ich habe keine Lust, Streit anzufangen. Also beschließe ich, die Erwachsene von uns beiden zu sein. »Wie schon gesagt, es tut mir leid. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden ...«
Ich lasse die schwarze Dame stehen und setze meinen Weg fort.
Am Ende des Flurs befindet sich eine Tür, die auf eine Marmorgalerie über dem Foyer hinausführt. Während sich unten die Zuschauer herumdrücken, bin ich hier oben alleine und kann in Ruhe durchatmen. Noch immer kreisen meine Gedanken um das Anliegen von Roland Narcisse. Frieden mit den Elfen. Wenn ich nur daran denke, wird mir übel.
Erschöpft beuge ich mich über das Geländer, falte die Arme auf dem Handlauf und mache einen Katzenbuckel, um meine verspannten Rückenmuskeln zu lockern. Von unten dringt das an- und abschwellende Brummen vieler, miteinander vermischter Stimmen zu mir herauf, ab und zu durchbrochen von einzelnen Misstönen oder Gelächter. Das Stück und die bevorstehende Troisan scheinen im Zentrum der Gespräche zu stehen. Zwischen den fein gekleideten Gästen huschen jede Menge Aufwärter umher und servieren Getränke und Schnittchen. Ich entdecke Narcisse, der von mehreren Männern mit Ansteckern am Revers umringt wird und weit ausholend gestikuliert. Es sieht ganz so aus, als wäre er in seinem Element.
Ich höre, wie sich die Tür hinter mir öffnet. Kurz darauf lehnt sich Étienne Romarin neben mir über das Geländer. Irgendwie habe ich schon damit gerechnet, dass wir uns an diesem Abend noch über den Weg laufen würden. In meinem Innern braut sich ein angenehmes Gefühl zusammen, ein Zucken im Bauch wie ein lautloses Kichern. Ich presse die Lippen aufeinander, um mich nicht zu verraten, und blicke stur geradeaus.
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Drudenkuss
FantasyElisabeth Pommier leidet unter einem Drudenfluch. Das bedeutet, sie muss jede Nacht ein schlafendes Opfer heimsuchen, um es zu drücken. Sie macht das Beste aus ihrer Beeinträchtigung und nutzt die resultierenden Albträume ihrer Opfer, um sich als Sc...