Wir steigen den Hügel hinauf und lassen uns von dort über ein kleines Holzpodest in das bereitstehende Luftschiff helfen.
Mehrere Stewards erwarten uns und führen uns der Reihe nach in den großen Bankettsaal im Zentrum der Passagiergondel. Hohe Fenster mit verschnörkelten Messingrahmen erlauben eine beeindruckende Aussicht über Holting und den dunklen Ozean. Regentropfen sprenkeln die Scheiben. Die Beleuchtung beschränkt sich auf ein Mindestmaß, damit die orangefarbenen Papierlaternen an der Decke und die Kerzen auf den Tischen eine bessere Wirkung entfalten können. Die Servietten sind zu blütenweißen Seekranichen gefaltet und auf jedem Tisch stehen eine Teekanne und mehrere traditionell bemalte Porzellantässchen bereit.
Ich sitze an einem Tisch mit Paul Ispin, Océane Beaufort, Alice und ihrem Verlobten. Nur einen Tisch weiter sitzen Étienne, Camille, Vernon, Prinz Shirin, Bo Haru-sin und mehrere Joumin, die zur Entourage des Prinzen gehören müssen.
Nachdem alle Platz genommen haben, werden die Türen geschlossen, die Motoren angeschaltet und das Luftschiff steigt in den Nachthimmel hinauf. Wir lassen die Wolken und den Regen hinter uns und sind schon bald von Sternen und silbernem Mondlicht umgeben. Die Triebwerke werden abgeschaltet und kurz darauf die Vorspeisen serviert. Es gibt eine heiße Muschelsuppe mit Kohl und Ingwer. Angeblich eine Delikatesse im eisigen Norden Jouyans.
Während des Essens fallen mir die Gendarmen auf, die sich abseits des Geschehens halten und die Gäste beobachten. Genau wie das in weiß gekleidete Sicherheitspersonal der Cerisiers.
Inzwischen ist die Frist abgelaufen und ich frage mich, wie die Erpresser reagieren werden. Werden sie uns den Bluff mit der Eingangsbestätigung abkaufen oder laufen bereits die Vorbereitungen zum Einsatz der Maschine?
Es ärgert mich, dass ich hier sitzen und das unerträgliche Geschnatter von Océane ertragen muss, während sich unter mir das Schicksal Ostragons entscheidet.
Und dann ist da noch Paul Ispin. Meine anfängliche Euphorie über unser Kennenlernen hat sich verflüchtigt. Wenn Ispin auf Sendung ist, lässt er seine Gäste ausreden, hört ihnen genau zu und stellt anschließend die richtigen Fragen.
In der Realität ist er rücksichtslos, rüde und wenig einfühlsam. Er lässt mich kaum zu Wort kommen und wenn ich mal etwas sage, scheint er nicht richtig zuzuhören. Schnell wird deutlich, dass er kein Interesse an dem hat, was ich zu sagen habe.
Frustriert spähe ich zu Étienne hinüber. Er muss gerade einen Witz gemacht haben. Jedenfalls kichert Camille neben ihm wie ein Schulmädchen, betatscht seinen Arm und wirft ihm schmachtende Blicke zu. Étienne lacht mit und schiebt ihr das nächste Weinglas hin. Ich wünsche mir, an ihrer Stelle sein zu können. Wegen Étienne und wegen des Alkohols.
Im nächsten Moment bemerke ich einen der mutmaßlichen Eisenkreuzer. Er hat schulterlanges, dunkelbraunes Haar und trägt eine kleine, kreisrunde Brille mit getönten Gläsern. Eilig zwängt er sich durch die Reihen zum Tisch der Cerisiers. Dort sucht er Vernon Cerisier, beugt sich über seine Schulter und flüstert ihm etwas ins Ohr.
Vernon lauscht interessiert, nickt mehrfach und tupft sich mit einer Serviette über die fleischigen Lippen. Dann steht er auf, entschuldigt sich mit einem bedauernden Lächeln und einer an den Haaren herbeigezogenen Ausrede bei den anderen Tischgästen und folgt seinem Handlanger durch den Speisesaal zu einem der davon abzweigenden Korridore. Offenbar haben die beiden etwas Wichtiges zu besprechen.
Während ich ihnen nachsehe, werde ich auf Alice' Verlobten aufmerksam, der mir ungeniert ins Dekolleté starrt. So ungeniert, dass ich die Befürchtung habe, er könnte mir auf die Brüste sabbern.
»Was erlauben Sie sich?«, fahre ich ihn an.
Alice' Verlobter wirkt nicht, als wäre er sich einer Schuld bewusst. »Machen Sie doch keine Szene«, sagt er und legt mir beschwichtigend die Hand auf den Oberschenkel.
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Drudenkuss
FantasyElisabeth Pommier leidet unter einem Drudenfluch. Das bedeutet, sie muss jede Nacht ein schlafendes Opfer heimsuchen, um es zu drücken. Sie macht das Beste aus ihrer Beeinträchtigung und nutzt die resultierenden Albträume ihrer Opfer, um sich als Sc...