»Hey, Kätzchen«, sagt Étienne, als ich mich an ihn heranschleiche.
Ich will mich zurückverwandeln, aber aus irgendeinem Grund gelingt es mir nicht. Das hält mich jedoch nicht davon ab, mich Étienne an den Hals zu werfen.
»Oh, na gut ... na schön ...«, sagt er, während ich mich an ihn dränge. Dabei bemerke ich, dass er eine Schusswunde an der Seite hat, etwa auf Höhe des untersten Rippenbogens. Er presst die Hand auf die Verletzung, aber zwischen seinen Fingern quillt Blut hervor und bildet eine dunkelrote Lache auf dem Marmorboden. »Bist du das, Betty?«
Ich bejahe, doch natürlich hört er nur ein ängstliches Maunzen.
»Ich werte das mal als ein Ja«, sagt Étienne und hebt mich mit der freien Hand auf seine Schulter.
Von dort kann ich sehen, wie die Gendarmen ihre Waffen nachladen und auf Isabel anlegen, doch noch ehe sie den Abzug betätigen können, verdichtet sich das Blitzgewitter, das die kleine Elfe umgibt, zu einem Vorhang aus elektrischen Entladungen. Unkontrolliert zucken die Blitze durch den Saal. Die Luft scheint zu knistern, Marmorfliesen zerplatzen und Staub rieselt von den Wänden.
»Isabel!«, ruft Étienne.
Der Gewittersturm wird schwächer.
Durch die gleißenden Lichtblitze kann ich sehen, wie der Präsident und seine Männer zurückweichen.
»Isabel«, wiederholt Étienne. »Lass es gut sein.«
»Ich kann nicht«, wimmert Isabel. Tatsächlich sieht sie aus, als wäre sie in einen Schraubstock eingespannt. Ihr Körper ist bis zum Zerreißen gespannt, ihre Arme sind zu den Seiten ausgestreckt, ihre Zehen berühren kaum noch den Boden.
»Monsieur Romarin!«, ruft irgendjemand. »Halten Sie Ihre Tochter zurück!«
»Ich wünschte, ich könnte«, erwidert Étienne. Bei jedem Wort dringt Blut aus seiner Wunde. Dessen ungeachtet versucht er es noch einmal. »Du brauchst mich nicht beschützen, Isabel.«
»Aber ...« Isabel dreht langsam den Kopf. Es sieht aus, als müsste sie gegen einen starken Widerstand ankämpfen. »Aber ...«
»Du hast das gut gemacht«, sagt Étienne. »Um den Rest kümmern wir uns.«
Isabel blinzelt. Das Rot in ihren Augen wird intensiver. »Ich kann nicht ... Papa ...«
»Sie soll sofort damit aufhören!«, brüllt einer der Gendarmen.
Ein Blitzeinschlag direkt vor seinen Füßen bringt ihn zum Verstummen. Irgendwo löst sich ein Schuss und schlägt über Isabels Kopf ins Mauerwerk ein.
»Halten Sie sich zurück!«, faucht Étienne, während ich meine Tiergestalt verfluche. Als Katze bin ich niemandem eine Hilfe.
»Papa ...«, wimmert Isabel. »Ich kann nicht-«
Es sieht aus, als würde sich ein weiteres Blitzgewitter zusammenbrauen, doch dann erlöschen die Entladungen. Schlagartig wird es dunkel um uns herum.
Isabel gibt einen erstickten Laut von sich, verliert den Halt und fällt zu Boden. Sie streckt die Arme aus und landet auf Händen und Knien.
»Komm her!« Étienne löst die Hand von seiner Wunde und streckt nach ihr.
Isabel krabbelt zu ihm.
Gleichzeitig setzt meine Verwandlung ein, sodass wir nur Sekunden später zu dritt, dicht aneinandergedrängt, an der Wand kauern. Isabel zwischen mir und Étienne, den Kopf an seiner Schulter vergraben.
»Was ist hier los, Betty?«, flüstert Étienne.
»Keine Ahnung«, flüstere ich zurück.
Kaum habe ich das gesagt, flammen überall in der Halle die kleinen Glut- und Flammennester auf, die von der Explosion zurückgeblieben sind. In ihrem rötlichen Schein kann ich die Gendarmen erkennen, die mindestens so ratlos und verwirrt aussehen wie wir.
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Drudenkuss
FantasyElisabeth Pommier leidet unter einem Drudenfluch. Das bedeutet, sie muss jede Nacht ein schlafendes Opfer heimsuchen, um es zu drücken. Sie macht das Beste aus ihrer Beeinträchtigung und nutzt die resultierenden Albträume ihrer Opfer, um sich als Sc...